Multiple Sklerose: Das Immunsystem, eine Macht mit zwei Gesichtern

Dreh- und Angelpunkt bei der Multiplen Sklerose ist das Immunsystem. Bei der Krankheit attackieren körpereigene Zellen Strukturen im Nervensystem. Genau dies ruft die typischen Symptome hervor. Einblicke in das Krankheitsgeschehen eröffnen auch neue Wege in der Therapie.

In den letzten Jahrzehnten haben Forschergruppen in aller Welt untersucht, wie es zur Multiplen Sklerose (MS) kommt und welche Vorgänge zur Schädigung von Nervenzellen führen. Heute wissen wir, dass MS eine Erkrankung des Immunsystems ist, genauer gesagt, eine Autoimmunerkrankung, sagt Professor Christoph Kleinschnitz. Er ist Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen. Im Gespräch mit NTC Impulse fasst er den Stand des Wissens zusammen.

Immunsystem auf Abwegen

Unser Immunsystem erfüllt die wichtige Aufgabe, in den Körper eingedrungene Erreger zu bekämpfen. Dabei kann es sich um Viren, Bakterien, Pilze oder abgestorbene Zellen handeln. Die Erkrankung zeichne sich durch eine Fehlregulation von Immunzellen aus, sagt Kleinschnitz, speziell von T-Zellen und B-Zellen (siehe Glossar). Die Ursachen sieht der Experte in genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen.

Sobald Immunzellen im Blut beziehungsweise in den Lymphknoten aufgrund fehlender Kontrollmechanismen aktiviert werden, wandern sie unter anderem in Richtung Blut-Hirn-Schranke. Normalerweise ist diese Struktur eine wirkungsvolle Barriere zwischen dem Blutkreislauf und dem Zentralnervensystem (ZNS). Eiweiße, Immunzellen und große Moleküle kommen bei gesunden Menschen nicht hindurch. Die Natur hat das ZNS gut geschützt, so Kleinschnitz weiter. Bei der MS jedoch ist die Barriere nicht intakt – eines der typischen Kennzeichen dieser Erkrankung. Das liege an schwächeren Verbindungen, die normalerweise Zellzwischenräume auskleiden.

Gelangen Immunzellen in das ZNS, schädigen sie vorhandene Strukturen auf unterschiedliche Art und Weise. Sie greifen die Umhüllung von Nervenzellen, das sogenannte Myelin, direkt an. Außerdem werden Botenstoffe freigesetzt. Diese Signalmoleküle locken Makrophagen (Fresszellen) aus dem Körper an, woraufhin erneute Angriffe auf die Umhüllung von Nervenzellen folgen. Im nächsten Schritt unterstützt das Gehirn selbst das zerstörerische Werk, und zwar mithilfe von Mikrogliazellen. Das sind Zellen mit immunologischer Funktion, die auch im gesunden Gehirn vorkommen. Sie werden durch aus dem Körper eingewanderte Immunzellen aktiviert und greifen dann ebenfalls die Myelinschicht von Nervenzellen an.

Erkrankung der tausend Gesichter

Im Körper führen diese immunologischen Attacken laut Kleinschnitz zu einer Vielzahl von Symptomen. Dazu zählen einseitige Sehstörungen, Taubheitsgefühle, Gangstörungen, Koordinationsstörungen sowie Schwindelattacken. Manche Patienten nehmen ihre Umwelt nur noch verschwommen oder wie durch einen Schleier wahr. Insgesamt betrachtet sind die Symptome sehr vielfältig, sagt der Neurologe. Man spreche deshalb auch von der Erkrankung der tausend Gesichter.

Die Unterschiedlichkeit der Symptomatik hat auch damit zu tun, dass sich Krankheitsherde überall im Nervensystem bilden können. Je nachdem, welche Region im Gehirn durch die Autoimmunerkrankung geschädigt wird, treten spezifische Funktionsstörungen auf. Warum MS oft schubförmig verläuft, wisse man noch nicht, sagt Christoph Kleinschnitz. Auch Tierexperimente lieferten bislang keine Anhaltspunkte.

Was das Risiko erhöht

Bei der Frage, welche Faktoren die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöhen, ist die Wissenschaft deutlich weiter. Auch hier spielt die Immunologie eine wichtige Rolle. Man kennt heute bestimmte Konstellationen im Erbgut, die das Krankheitsrisiko ansteigen lassen, aber auch Funktionen des Immunsystems steuern, so Kleinschnitz. Wer diese Muster im Erbgut trägt, erkrankt jedoch nicht automatisch an MS, sagt der Neurologe und fügt hinzu: Auch wenn es eine genetische Komponente gibt, muss betont werden: Die MS ist keine Erbkrankheit.

Auch Umwelteinflüsse spielen eine Rolle, darunter Infektionen mit Epstein-Barr-Viren oder anderen Viren in der Kindheit. Rauchen und ein Mangel an D-Vitaminen stehen ebenfalls im Verdacht, das Risiko zu erhöhen. Dennoch ist MS keine infektiöse Erkrankung und auch keine Mangelerkrankung, sie bricht vielmehr durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren aus, erzählt Christoph Kleinschnitz.

Vorbeugen und behandeln

Bedeutsam ist das Immunsystem nicht nur beim Ausbruch von MS, sondern auch für die Vorbeugung. Haben Patienten wichtige Impfungen versäumt und kommt es dann zu einer Infektion, kann das MS-Schübe hervorrufen, warnt der Neurologe. Bei MS seien alle Impfungen mit Totimpfstoffen möglich, denn diese enthielten keine lebensfähigen Erreger. Ratsam seien daher die jährliche Grippeschutzimpfung, die Poliomyelitis-Impfung (Kinderlähmung) und die Meningokokken-Impfung (Hirnhautentzündung). Im Unterschied dazu sollten Lebendimpfstoffe (etwa Gelbfieberimpfung) nur dann verabreicht werden, wenn es sich nicht vermeiden lässt. In den vergangenen Jahren kam eine Reihe neuer MS-Therapien auf den Markt, die krankmachende Immunzellen gezielt ausschalten. Darunter sind beispielsweise Medikamente, die schädigende Aktivitäten von T-Zellen oder B-Zellen unterbinden. Andere Präparate verhindern, dass Immunzellen durch die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn gelangen. Dies gelingt ihnen mithilfe spezieller blockierender Moleküle, die den Schutzwall wiederherstellen. Andere Arzneistoffe bewirken, dass Immunzellen in den Lymphknoten verharren und sich nicht auf den Weg ins Gehirn machen. Christoph Kleinschnitz rechnet in den nächsten Jahren mit weiteren innovativen Therapieansätzen, welche die Aktivität des Immunsystems normalisieren und eingetretenen Schaden im Gehirn reparieren können. mvdh