Multiple Sklerose: Das Immunsystem in seine Schranken weisen

Multiple Sklerose ist nicht heilbar, aber mit modernen Arzneistoffen gut zu behandeln. Ärzte verordnen meist Präparate, die ein Überschießen des Immunsystems verhindern. Häufigkeit und Schwere von Schüben sollen so reduziert und der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden.

Mediziner gehen heute davon aus, dass Multiple Sklerose (MS) eine Autoimmunerkrankung ist. Dabei attackieren Zellen des Immunsystems körpereigene Strukturen im Gehirn und im Rückenmark – Entzündungen sind die Folge. Hier setzen Immuntherapien an. Ziel der Behandlung ist es, überschießende Reaktionen des Immunsystems zu stoppen oder zu normalisieren. Durch die Vielzahl zugelassener Behandlungen sei es heute möglich, die Auswahl individuell für den einzelnen Patienten und seinen Krankheitsverlauf zu treffen, sagt Professor Peter Berlit. Er war lange Jahre Chefarzt der Klinik für Neurologie am Alfried Krupp Krankenhaus in Essen-Rüttenscheid und ist erster Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.

Dem Schub begegnen

Tritt ein akuter Schub auf, ist die Auswahl an Therapien nach Auskunft von Berlit gering. Neurologen setzen hoch dosierte Glukokortikoide (siehe Glossar S. 11) zeitlich befristet ein. Die Arzneistoffe wirken entzündungshemmend. Sie verringern aber auch die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, was durchaus erwünscht ist. Denn wenn weniger weiße Blutkörperchen in die Entzündungsherde einwandern, geht auch die Entzündung zurück. Sollten die Glukokortikoide nicht wirken, komme als letztes Mittel eine Blutwäsche in Frage, sagt der Neurologe. Dabei wird das Blut des Patienten außerhalb des Körpers über einen Filter geleitet, um Immunzellen abzutrennen. Berlit: Die Therapie ist aber nur in Einzelfällen nötig.

Dämpfen und bekämpfen

Zahlreiche Möglichkeiten haben Ärzte bei der sogenannten Basistherapie. Dabei verordnen sie gut verträgliche Arzneistoffe, um die MS langfristig positiv zu beeinflussen. Neurologen sprechen auch von einer verlaufsmodifizierenden Immuntherapie. Wir müssen zunächst herausfinden, ob es sich um eine schubförmige (RRMS) oder eine sekundär progrediente Verlaufsform mit überlagerten Schüben (rSPMS) oder vielleicht sogar um die primär progrediente Form (PPMS) handelt, sagt Berlit. Verliert die Basistherapie an Effektivität, kommen im Rahmen einer sogenannten Eskalationstherapie noch wirksamere Arzneistoffe zum Einsatz, die ein höheres Risikoprofil haben und deshalb eine engmaschige Therapieüberwachung erfordern.

Berlit nennt zwei grundlegende Prinzipien von immunologisch wirksamen Arzneistoffen bei MS: Zunächst die Immunmodulation, die im Idealfall das gestörte Gleichgewicht im Abwehrsystem des Körpers normalisiert. Alternativ gibt es die Immunsuppression, bei der bestimmte immunologische Prozesse unterdrückt werden, die MS-Symptome hervorrufen. Es sei ratsam, sagt Peter Berlit, möglichst früh mit immunmodulierenden Arzneistoffen zu beginnen. Denn entzündliche Aktivitäten seien gerade in den anfänglichen Erkrankungsphasen am größten, betont der Neurologe. Zu Beginn der MS attackieren nämlich Zellen des Immunsystems die Myelinscheiden, was zu Entzündungen führt. Zum Absterben von Nervenzellen kommt es erst im weiteren Krankheitsverlauf.

Vorrangig gehe es darum, die Schwere und Häufigkeit der Schübe zu reduzieren und Behinderungen weitgehend zu vermeiden, sagt der erfahrene Arzt und fügt hinzu. Dabei orientieren wir uns in der Neurologie inzwischen immer öfter an einem Prinzip, das aus der Rheumatologie kommt: Wir starten mit einer intensiven Therapie innerhalb der ersten drei bis sechs Monate. Sobald die Entzündung gestoppt ist, folgt dann – als sogenannte Erhaltungstherapie – der Übergang auf Medikamente, die schwächer sind und weniger Nebenwirkungen haben.

Jeder Stoff wirkt anders

Arzneimittel zur verlaufsmodifizierenden Immuntherapie folgen unterschiedlichen Wirkprinzipien. Manche Pharmaka wirken direkt im zentralen Nervensystem. Andere verhindern, dass Vorläufer von Immunzellen in das Blut oder das Nervensystem einwandern. Die Vorläuferzellen verharren dann beispielsweise in den Lymphknoten oder werden durch die Blut-Hirn-Schranke vom Gehirn ferngehalten. Im besten Fall bremsen Medikamente nur fehlerhafte oder überschießende Reaktionen ab, ohne die erwünschten immunologischen Vorgänge (zum Beispiel die Infektabwehr) zu beeinträchtigen.

Monoklonale Antikörper (siehe Glossar S. 11) erkennen Oberflächenstrukturen auf B- oder T-Zellen und docken dort an. Das führt zur Zerstörung dieser Zellen, die zu den weißen Blutkörperchen gehören. Professor Bernhard Hemmer, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, bezeichnet die Entwicklung der Antikörper, die zielgerichtet wirken, sogar als einen Quantensprung in der MS-Therapie.

Ein Silberstreif am Horizont

Die meisten Arzneistoffe wurden bislang für Patienten mit schubförmiger MS zugelassen. Bei den chronisch voranschreitenden Verlaufsformen gibt es nur wenige Möglichkeiten. Bis vor Kurzem hatten wir für die Therapie der sekundär progredienten MS lediglich das Mitoxantron, berichtet Peter Berlit. Das Zytostatikum (siehe Glossar S. 11) kommt ursprünglich aus der Krebstherapie und unterdrückt bei der MS schädliche Entzündungsreaktionen.

Allmählich verbessert sich jedoch die Therapiesituation. So ist seit einigen Monaten der monoklonale Antikörper Ocrelizumab sowohl für die Therapie der schubförmigen MS (RRMS und rSPMS) als auch zur Behandlung der primär progredienten Form (PPMS) verfügbar. Es ist das erste in Deutschland zugelassene Arzneimittel zur Therapie der PPMS und in der Lage, deren Verlauf zu verzögern. Nach Angaben von Prof. Hemmer hat Ocrelizumab insbesondere bei jüngeren Patienten in Studien moderate Effekte gezeigt. Ein weiteres Medikament, Siponimod, ist in den USA bereits erhältlich und kann vorrausichtlich bald auch in Europa für die Therapie der aktiven sekundär progredienten MS verordnet werden können.

Im Zweifel zum Arzt

Medikamente können aber auch zu unerwünschten Effekten führen: Dies gilt auch für Immuntherapien, zu deren Begleiterscheinungen Infektionen zählen können. Bei Medikamenten, die schon seit Jahrzehnten verordnet werden, kennt man das Nebenwirkungsprofil sehr genau – sie gelten als relativ sicher. Naturgemäß fehlen solche Langzeiterfahrungen bei neuen Arzneimitteln. Generell rät der Experte Patienten, sich strikt an den Rat ihres Neurologen zu halten und alle empfohlenen Untersuchungstermine wahrzunehmen. Sein Tipp: Im Zweifelsfall lieber einmal häufiger zum Arzt gehen als einmal zu wenig, damit es nicht zu folgenschweren Komplikationen kommt.

Wenn alle Stricke reißen

Gelingt es den Ärzten nicht, die Erkrankung mit Medikamenten in den Griff zu bekommen, bleibt ihnen ein letzter Ausweg: die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (siehe Glossar). Dabei werden dem Blut oder dem Knochenmark eines Patienten Stammzellen entnommen und im Labor aufbereitet. Anschließend wird das blutbildende System im Körper mit einer Chemo- oder Strahlentherapie zerstört. Im letzten Schritt erhält der Patient seine eigenen Stammzellen per Infusion zurück. Das Immunsystem erneuert sich. Diese Patienten sind danach zwar frei von allen spezifischen MS-Krankheitszeichen und benötigen keine Medikamente mehr – aber die Risiken der Behandlung sind immens, sagt Berlit. Nach der Transplantation sind Patienten einer erhöhten Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Ihr Immunsystem muss sich erst neu aufbauen und Infektionen können zu dem Zeitpunkt lebensbedrohlich sein. Wir wissen, dass viele von der drastischen Therapie profitieren, müssen aber noch herausfinden, wem genau sie nützt, sagt der Neurologe. Er hofft, dass dies künftig auch mithilfe von Biomarkern möglich sein wird. Anhand dieser kleinen Moleküle im Blut könnte man dann, so die Idee, Patienten erkennen, die nicht auf klassische Arzneistoffe ansprechen, aber von einer frühen Stammzelltherapie profitieren.

Auch wenn die MS nach wie vor nicht heilbar ist, können Betroffene und ihre Angehörigen durchaus optimistisch in die Zukunft blicken. Die große Auswahl an Therapien, die in den vergangenen Jahren neu zugelassen worden sind oder noch auf den Markt kommen werden, hilft, für jeden Patienten die passende Option zu finden, Behinderungen zu vermeiden und die Lebensqualität wieder spürbar zu steigern. mvdh

Wirkstoffe im Überblick
Bei milden & moderaten Verläufen: Dimethylfumarat, Glatirameracetat, Interferon-beta 1a, Peginterferon-beta 1a, Interferon-beta 1b, Teriflunomid

Bei (hoch-)aktiven Verläufen: Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Natalizumab, Ocrelizumab