Multiple Sklerose: Mit Farbe, Ton und Achtsamkeit

In dem Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof, einem Reha-Zentrum der Sana Kliniken Bad Wildbad, hat die Kunsttherapie ihren festen Platz im Behandlungsangebot. Die Teilnehmer lernen dort auf spielerische Art und Weise, neue Denk- und Verhaltensweisen zu ergreifen – auch und gerade im Umgang mit ihrer Erkrankung.

Die Kunsttherapie hat mir Wege aus der Leistungsorientierung gezeigt. Und sie hat mir nahegebracht, dass nicht das Ergebnis entscheidend ist, sondern dass die Zeit zählt, die ich mit etwas verbringe, das mir gut tut. Mit diesen Worten fasst eine Patientin im Abschlussgespräch das Ergebnis ihrer Teilnahme an der Kunsttherapie zusammen. Es hat mir gut getan, den Mut aufzubringen, etwas Neues auszuprobieren, fügt die seit vielen Jahren an MS erkrankte Frau hinzu. Und sie hoffe, dass es ihr gelinge, etwas von der achtsamen Haltung, in der vor allem der Augenblick zähle, auch in ihren Alltag zu Hause zu integrieren.

Es sind Aussagen wie diese, die Thomas Blessing, Kunsttherapeut im Quellenhof, in seiner Arbeit mit Patienten, die an MS oder einer anderen neurologischen Erkrankung leiden, immer wieder bestärken. Neues auszuprobieren, neue Erfahrungen zu machen, sich neue Denk- und Verhaltensweisen zu erarbeiten – all das bedeutet, neue Fähigkeiten zu erlernen und damit auch auf hirnorganischer Ebene das neuronale Netzwerk zu erweitern, sagt Blessing, der seit mehr als dreißig Jahren in der Neurorehabilitation als Kunsttherapeut arbeitet.

Nach Lust und Laune experimentieren

Die künstlerischen Therapien, zu denen neben der Kunst- auch die Musiktherapie gehört, haben aus diesen Gründen im Quellenhof seit jeher ihren festen Platz. In kleinen, regelmäßig geplanten Gruppen oder wahlweise in der Offenen Werkstatt bei freier Zeiteinteilung werden die Patienten zum achtsamen Umgang mit sich und Materialien wie Acrylfarbe, Ton und Pastellkreide angeleitet. Der sinnliche Genuss und das kreative Tun, bei dem nach Lust und Laune experimentiert werden darf, soll die Gedanken, die bei den meisten Teilnehmern viel zu oft um die eigene Erkrankung kreisen, zur Ruhe kommen lassen. Zudem soll beides den Patienten dabei helfen, neue Erfahrungen zu erleben und dadurch Vertrauen in die eigene Stärke zu gewinnen.

Nicht immer funktioniert das von Anfang an. Manche Patienten müssen zunächst einige schmerzliche Erfahrungen durchleben. Ein Patient hatte beispielsweise mal eine ganze Stunde lang versucht, die MRT-Bilder seiner Entzündungsherde im Gehirn als Tonrelief abzubilden, erinnert sich Blessing. Am Ende der Stunde stampfte er seine Arbeit wieder zu einem formlosen Tonklumpen zusammen – und beschloss, beim nächsten Mal lieber etwas Schönes daraus zu machen.

Dem Patienten war bei seinem Tun offenbar eines klar geworden: Mit den gewohnten Denkmustern, die seine Krankheit fast immer ins Zentrum rückten, konnte er unmöglich gesund werden. Er müsse lernen, anders zu denken und das Gesunde in den Mittelpunkt seiner Gedanken zu stellen, berichtete er Blessing später. Er wolle versuchen, seinem Leben von nun an eine andere Richtung zu geben.

Vielen Patienten, insbesondere wenn sie schon länger erkrankt sind, fällt es sehr schwer, alte Gewohnheiten aufzugeben und nach neuen Lösungen für ihr Leben zu suchen, sagt Blessing. Sie müssen sich erst wieder daran erinnern, dass sie nicht nur krank, sondern in Teilen immer auch gesund sind – und dass sie selbst dazu beitragen können, dass ihr Gesundes erstarkt.

Das kreative Tun entspannt

Die Kunsttherapie soll sie genau darin unterstützen und durch spielerisches Erleben, Experimentieren und Gestalten die sinnliche Wahrnehmung stimulieren und die Patienten entspannen. In diesem Umfeld entstehen dann sehr oft neue Einsichten und Erfahrungen, die letztlich zu einem geänderten Verhalten im Alltag anregen und im gestalterischen Prozess konkretisiert, variiert und ausprobiert werden können, erläutert Blessing.

Die Veränderungen im Denken und Tun machen sich dem Kunsttherapeuten zufolge auch auf physiologischer Ebene bemerkbar. Indem der Mensch nach neuen Lösungen und Variationen sucht, entstehen ganz automatisch neue Nervenverbindungen, sagt er. Dies sei die neurobiologische Grundlage der Kreativität, die deshalb auch jedem Menschen von Geburt an zur Verfügung stehe, ist Blessing überzeugt.

Die Kunsttherapeuten am Quellenhof arbeiten Hand in Hand mit den übrigen Therapeuten und ergänzen sich dabei gegenseitig. Wenn ein Patient aus den Kunststunden deutlich entspannter und damit auch körperlich lockerer als zuvor herausgeht, profitiert zum Beispiel auch seine Physiotherapie davon, erklärt Blessing. Die Übungen zur Stärkung der motorischen Fähigkeiten lassen sich dann fast immer viel effizienter durchführen.

Eine Studie belegt den positiven Effekt

Und nicht selten kommen motorische, kognitive oder psychische Probleme erst im gestalterischen Erleben der Patienten so richtig ans Tageslicht. In solchen Fällen können wir den Kollegen von unseren Beobachtungen berichten, sodass sie ihr therapeutisches Handeln entsprechend anpassen können, sagt Blessing. Doch oft trage allein schon das kreative Tun dazu bei, dass sich körperliche Beschwerden wie visuelle Einschränkungen, Koordinations- und Gleichgewichtsprobleme oder feinmotorische Störungen besserten, betont der Therapeut.

Die sichtbaren Erfolge der Kunsttherapie sind inzwischen auch wissenschaftlich belegt. So konnten in einer Studie, die von einer Studentin im Rahmen ihres Master-Studiengangs an der privaten medizinischen Hochschule MSH (Medical School Hamburg) durchgeführt wurde, deutliche positive Effekte nachgewiesen werden, die für diese Form der Therapie sprechen.

Für die Untersuchung, die unter anderem in der Fachzeitschrift Neurologie & Rehabilitation veröffentlicht ist, wurden 69 MS-Patienten rekrutiert, von denen 37 zufällig ausgewählte Probanden während der stationären Reha-Therapie zweimal wöchentlich an einer einstündigen kunsttherapeutischen Sitzung teilnahmen. Die anderen 32 Probanden erlernten mithilfe einer CD eine Entspannungsübung und dienten als Vergleichsgruppe.

Zu Beginn und am Ende der Reha sowie sechs Monate nach der Entlassung wurden alle Patienten mittels etablierter Fragebögen zu ihrer Lebensqualität sowie zu den Aspekten Depression, Selbstwirksamkeit und Fatigue befragt. Mit dem Begriff Selbstwirksamkeit beschreiben Psychologen die Überzeugung von Menschen, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können.

Wichtig ist die Neugier

Wie sich herausstellte, besserten sich zwar auch in der Vergleichsgruppe die Stimmung, das Sozialverhalten und die Selbstwirksamkeit der befragten Patienten leicht. Allerdings waren die Veränderungen nur bei den Teilnehmern der Kunsttherapie auffallend genug, um auch statistisch ins Gewicht zu fallen. Darüber hinaus steigerte die Teilnahme an der Kunsttherapie das körperliche und emotionale Wohlbefinden der Probanden sowie ihre geistige Flexibilität und Veränderungsbereitschaft. Zudem litten diese Patienten weniger ausgeprägt an Fatigue, einer häufigen Begleiterscheinung der Multiplen Sklerose. Kunsttherapie verbessert die Lebensqualität bei MS-Patienten, insbesondere in den Bereichen Stimmung, Selbstwirksamkeit, Sozialverhalten und Fatigue, lautet das Fazit der Studienautoren.

Hemmungen aus Furcht vor mangelndem Talent oder fehlendem Wissen sollte Blessing zufolge kein Patient haben. Um von einer Kunsttherapie zu profitieren, ist keinerlei Vorerfahrung nötig, sagt er. Im Gegenteil: Zu viel Wissen stehe dem kreativen Prozess eher entgegen. Neugierde und die Bereitschaft zur Veränderung – das seien die wesentlichen Voraussetzungen, damit die Kunst das Leben und speziell die Erkrankung zum Positiven wenden könne. ab