Multiple Sklerose: Vor der Außenwelt verborgen

MS führt nicht nur zu sichtbaren Symptomen wie Gehbeschwerden. Manche Probleme, wie extreme Müdigkeit, geistige Einschränkungen oder Depressionen, bleiben anderen oft verborgen. Das kann zu Missverständnissen im zwischenmenschlichen Umgang führen.

Reißen Sie sich doch zusammen oder gehen Sie früher ins Bett. Solche Sätze hören Patienten mit MS, die an extremer Müdigkeit leiden, nicht selten. Dabei haben sie eine MS-typische ernsthafte Symptomatik, die sogenannte Fatigue. Bei MS aber denken die meisten Menschen primär an Symptome wie Gehbehinderungen, ausgelöst durch Steifigkeit der Muskulatur oder Gleichgewichtsprobleme, sagt Professor Judith Haas, die Vorsitzende der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V. und ärztliche Leiterin des Zentrums für Multiple Sklerose am Jüdischen Krankenhaus Berlin. Weithin unbekannt seien hingegen die unsichtbaren MS-Symptome und selbst Patienten brächten sie nicht immer mit ihrer Erkrankung in Verbindung.

Quälende Müdigkeit

Als häufigstes unsichtbares Krankheitszeichen nennt Haas die Fatigue (siehe Beitrag auf den Seiten 8 bis 9), eine abnorme Form der Müdigkeit mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit. In der Frühphase von MS leiden daran bereits 50 Prozent der Patienten, später sogar 70 Prozent. Wer davon betroffen ist, fühlt sich rasch erschöpft und muss regelmäßig Pausen einlegen. Im Alltag kann es schnell einmal zu Missverständnissen kommen. Wer keine sichtbaren Beschwerden hat, ist scheinbar gesund und damit vermeintlich auch voll leistungsfähig in Alltag und Beruf. Unterstützung sei gerade im Job wichtig, so Haas: Fatigue-Betroffene brauchen einen Arbeitsplatz, an dem sie weitgehend ungestört ihre Tätigkeit verrichten und nach Bedarf Pausen einlegen können.

Schweigen aus Scham

Zwischen 60 und 80 Prozent der MS-Patienten haben mit anderen unsichtbaren Symptomen zu kämpfen: mit starkem Harndrang infolge einer überaktiven Blase oder einer inaktiven, schlaffen Blase mit Restharnbildung, Auch Mischformen treten auf. Bei bis zu 70 Prozent der Patienten macht der Stuhlgang Schwierigkeiten; meist handelt es sich um Verstopfungen. Über solche Beschwerden spricht niemand gerne. Vertrauen sich Patienten ihrem Arzt an, kann er in vielen Fällen helfen. Mehr dazu im Beitrag Bloß keine falsche Scham ab Seite 10.

Unter kognitiven Einschränkungen leiden schätzungsweise 50 Prozent aller Patienten. Die Leistungsfähigkeit des Gehirns reicht für die Bewältigung kurzfristiger Aufgaben aus, lässt aber bei längeren oder komplexeren geistigen Tätigkeiten vor allem durch die oben erwähnte vorzeitige Erschöpfung deutlich nach, sagt Judith Haas. Die Beschwerden seien je nach Patient sehr unterschiedlich: Manche tun sich deutlich schwerer als gesunde Menschen, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen, bei anderen versagt das planerische Denken und auch Gespräche in größerer Runde können zu einer Belastungsprobe werden.

Training für den Kopf

Um die Hirnleistung zu verbessern, werden immer mehr Computerprogramme entwickelt. Sie trainieren beispielsweise die Reaktionsbereitschaft, die dauerhafte Aufmerksamkeit, die fokussierte Aufmerksamkeit bei Ablenkung oder die geteilte Aufmerksamkeit beim gleichzeitigen Ausführen mehrerer Aktionen. Auch das Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis kann Studien zufolge mit dem Computer verbessert werden. Wirksame Medikamente, um kognitive Störungen bei MS nachhaltig zu verringern, gebe es noch nicht, sagt Haas.

Auch die Seele leidet

Besser seien die therapeutischen Möglichkeiten bei einer Depression, die man ebenfalls zu den unsichtbaren Symptomen bei MS zählt, sagt Haas und ergänzt: Diese psychische Erkrankung tritt bei MS-Patienten mehr als dreimal so oft auf wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Zur Behandlung setzen Ärzte heute auf moderne Antidepressiva, die, wie Haas betont, weder abhängig machen noch das Reaktionsvermögen schmälern. Ihre Wirkung setzt meist nach zwei Wochen ein, bei manchen Patienten dauert es etwas länger. Als Ergänzung haben sich verschiedene Psychotherapieverfahren bewährt, darunter etwa die kognitive Verhaltenstherapie. Sie wird oft genutzt, um belastende Denkmuster zu durchbrechen. Bei einer weiteren, ebenfalls häufig verwendeten Therapieform, der interpersonellen Therapie, geht es darum, schwierige soziale Situationen zu bewältigen. Das wird anhand von Rollenspielen trainiert.

Schmerzen haben diverse Ursachen

Auch Schmerzen und Gefühlsstörungen sieht man Menschen mit MS nicht unbedingt an, sagt Haas. Vor der eigentlichen Schmerzbehandlung müssen andere nicht MS bedingte Ursachen ausgeschlossen werden, sagt die Berliner Neurologin. Scheiden sonstige Ursachen aus, verordnet sie ihren MS-Patienten Wirkstoffe wie Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin, Amitriptylin und eventuell auch Cannabinoide.

Mehr Ruhe in der Nacht

Wenn MS-Patienten keinen erholsamen Schlaf finden, kann das unterschiedliche Gründe haben. Dazu zählen Missempfindungen, Spastiken, Blasenfunktionsstörungen, aber auch Depressionen. Die Behandlung orientiere sich dann an den Symptomen, erklärt Haas. Wer beispielsweise unter nächtlichem Harndrang leide, erhalte vom Urologen spezielle Medikamente und Empfehlungen zum Trinkverhalten. Darüber hinaus sei oft auch Eigeninitiative gefragt, so Haas weiter. Wer feste Schlafenszeiten einhalte, das Schlafzimmer angenehm temperiere und ab dem Nachmittag keine koffeinhaltigen Getränke mehr konsumiere, schlafe leichter ein. Auch körperliches Training verbessert den Schlaf.

Wie durch einen dichten Nebel

Bei 20 bis 30 Prozent aller Menschen mit MS beginnt die Erkrankung mit einer Entzündung des Sehnervs und typischem unscharfen Schleiersehen, sagt Judith Haas. Ebenso sei ein Gesichtsfeldausfalll im Zentrum des Blickfelds eines Auges möglich, während die Bereiche am Rand meist scharf wahrgenommen würden. Auch Doppelbilder können sehr quälend sein, die durch einen Schaden in einer anderen Region des Gehirns ausgelöst werden.

Die MS wird oft Krankheit der tausend Gesichter genannt, sagt die Vorsitzende der Deutschen Multiple Sklerosegesellschaft. Auch wenn manche dieser Gesichter nach außen hin unsichtbar seien, beeinträchtigten sie Patienten doch auf vielerlei Weise. Prof. Haas: Wer die Beschwerden kennt, kann aber in vielen Fällen etwas dagegen unternehmen und die Lebensqualität der Patienten entscheidend verbessern. mh