Multiple Sklerose: Kleine Schritte gegen die große Erschöpfung

Schwere Erschöpfungszustände gehören zu den häufigsten Symptomen bei Multipler Sklerose. Der Neurologe Professor Mircea Ariel Schoenfeld schildert, wie er die sogenannte Fatigue erkennt und welche Möglichkeiten der Behandlung es gibt.

Multiple Sklerose (MS) geht nicht nur mit Lähmungserscheinungen, Sehstörungen und Schmerzen einher. Schwere Erschöpfungszustände, Fatigue genannt, betreffen mindestens zwei Drittel der Patienten, sagt Professor Mircea Ariel Schoenfeld. Er ist Ärztlicher Leiter im Bereich Neurorehabilitation an den Schmieder-Kliniken Heidelberg. In circa 30 Prozent der Fälle trete die Fatigue sogar als erstes Symptom der Krankheit auf, berichtet Schoenfeld. Und einer Befragung am Universitätsklinikum Münster zufolge fühlen sich 50 bis 60 Prozent der Betroffenen durch extreme Erschöpfung stärker beeinträchtigt als durch andere Beschwerden.

Wenn Signale verhallen

Ursachen der Fatigue bei MS sind nach wie vor unklar. Faktoren wie Alter, Geschlecht, MS-Variante, Erkrankungsdauer und sichtbare Veränderungen im Kernspintomogramm sind offenbar nicht entscheidend. Wichtigster Auslöser ist die Zerstörung von Myelinscheiden. Sie umgeben die Fortsätze von Nervenzellen und isolieren diese von der Umgebung. Das begünstigt die schnelle Übertragung elektrischer Impulse. Bei MS jedoch attackieren Zellen des Immunsystems das Myelin, woraufhin Entzündungen entstehen. Dabei werden spezifische Botenstoffe ausgeschüttet. Man kann sich gut vorstellen, dass die Zerstörung von Myelin die Kommunikation der Nervenzellen untereinander beeinträchtigt, sagt Schoenfeld und fügt hinzu: Messungen der Reizweiterleitung bestätigen diesen Verdacht.

Beschwerden richtig einordnen

Die charakteristischen Beschwerden lassen sich, so Schoenfeld weiter, in zwei Kategorien unterteilen. Bei motorischer Fatigue gehe es um die körperliche Erschöpfung, während bei mentaler Fatigue sämtliche kognitiven Funktionen betroffen seien. Daneben gebe es auch Mischformen.

Um Fatigue von starker, aber normaler Müdigkeit abzugrenzen, verwenden wir spezielle Fragebögen, berichtet der Neurologe. Er arbeitet mit dem Würzburger Erschöpfungs-Inventar bei Multipler Sklerose (WEIMuS). Dabei werden Patienten gebeten, folgende Fragen zu beantworten:

• Führte körperliche Betätigung zu vermehrter Erschöpfung während der letzten Woche?

• Behinderte die Erschöpfung körperliche Betätigung?

• War ich aufgrund der Erschöpfung nicht in der Lage, klar zu denken?

• War mein Denken verlangsamt?

Jede Frage kann abgestuft auf einer Skala von fast nie, selten über manchmal bis häufig beantwortet werden. Anhand der gesammelten Informationen ermitteln Neurologen dann einen Punktwert, der, falls eine Fatigue vorliegt, deren Schweregrad bestimmt. Schoenfeld schickt seine Patienten mitunter auch auf ein Laufband. Liegt eine motorische Fatigue vor, macht sich dies nach einiger Zeit durch qualitative Veränderungen im Gangbild bemerkbar.

Um eine mentale Fatigue zu erfassen, haben sich Testbatterien zur Aufmerksamkeitsprüfung bewährt. Unter Testbatterien sind Kombinationen verschiedener Einzeluntersuchungen zu verstehen. Das Modul Alertness (deutsch: Wachheit) misst unter verschiedenen Bedingungen, wie schnell ein Patient reagiert. Er muss etwa nach Aufforderung am Computerbildschirm eine Taste auf der Tastatur betätigen.

Empfehlenswert sei es, sagt Schoenfeld, bei Fatigue den diagnostischen Blick zu weiten. Denn manche Patienten litten nicht nur an einer MS, sondern noch an weiteren Beschwerden: etwa an einer unentdeckten Schilddrüsenerkrankung, einer Depression oder einer Schlafstörung. In diesen Fällen komme es häufig zur Überlagerung von Symptomen. Auch die Wirkungen und Nebenwirkungen bereits einzunehmender Medikamente, darunter Beruhigungsmittel, Schlaftabletten und starke Schmerzmittel, können zu starker Müdigkeit führen und eine Fatigue verstärken. Hier sei, so Schoenfeld, eine kritische Überprüfung des Therapieplans durch den behandelnden Arzt erforderlich.

Medikamente und Muskeltraining

Bestätigt sich die Diagnose Fatigue, setzt der Heidelberger Neurologe im ersten Schritt auf nichtmedikamentöse Maßnahmen: Vielen Patienten hilft es sehr, den Tag zu strukturieren und Pausen einzuplanen. Er weiß jedoch um die Grenzen dieser Methode. Denn viele Berufstätige können ihre Zeit in der Regel nicht selbst einteilen.

Umso wichtiger sei deshalb eine optimale Basistherapie, sagt Schoenfeld. Mit der heute üblichen immunmodulatorischen MS-Therapie (siehe Glossar) verringert sich die extreme Müdigkeit bei manchen Patienten. Außerdem haben wir mit Amantadin gute Erfahrungen gemacht, berichtet der Neurologe. Etwa jeder dritte Patient mit Fatigue profitiert. Bei Amantadin handelt es sich um keinen typischen Arzneistoff zur Behandlung der Fatigue, hier ist die Datenlage eher schlecht. Der Wirkstoff kommt ursprünglich aus der Grippe- bzw. Parkinsontherapie. Von weiteren Pharmaka hält der Neurologe wenig. Wirkt Amantadin nicht, sehen wir bei anderen Wirkstoffen, etwa Modafinil, eher schwache Effekte.

Leiden MS-Patienten ausschließlich an motorischer Fatigue mit Veränderungen des Gangbilds, verordnet Schoenfeld 4-Aminopyridin. Diese Substanz führt in jedem zweiten Fall zum Erfolg, sagt der Arzt. Positive Wirkungen erreiche man auch mit Intervall-Ausdauertrainings. Dabei üben die mit Gurten gesicherten Patienten so lange auf einem Laufband, bis sich eine leichte Fatigue bemerkbar macht. Vier bis fünf Einheiten pro Woche seien erforderlich, um einen Effekt zu erzielen, sagt der Mediziner. Auch regelmäßiges Üben stärke das Herz-Kreislauf-System und die Muskulatur – und wirke so der körperlichen Erschöpfung entgegen, sagt Schoenfeld. In den meisten Fällen gelingt es, die Beschwerden einer Fatigue zu lindern. mh