Multiple Sklerose: Bloß keine falsche Scham

Multiple Sklerose kann nicht nur zu Taubheitsgefühlen, Schmerzen oder Sehstörungen führen. Manche Patienten sind auch nicht mehr in der Lage, Blase und Darm ausreichend zu kontrollieren. Sie scheuen sich oft, mit ihrem Arzt darüber zu reden. Dabei lohnt es sich, denn es gibt wirksame Möglichkeiten der Behandlung.

Schätzungsweise 75 bis 80 Prozent aller MS-Betroffenen entwickeln im Verlauf der Erkrankung eine Blasenfunktionsstörung. Und 40 bis 70 Prozent der Patienten haben Probleme mit der Darmentleerung; sie leiden an Verstopfung oder an Stuhlinkontinenz. Wie es zu den Beschwerden kommt, erläutert Dr. Fabian Queißert. Er ist Leiter der Sektion Neurourologie und Koordinator des Kontinenz- und Beckenbodenzentrums am Universitätsklinikum Münster. Queißerts Fachgebiet, die Neurourologie, befasst sich mit Beschwerden der Blase und des Darms bei neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose.

Fehlgeleitete Signale

Blase und Darm werden von uns bewusst gesteuert, sagt Queißert. Das geschieht über Nervenbahnen, die Blase und Darm mit einer speziellen Region im Vorderhirn, dem sogenannten Miktionszentrum, verbinden. Bei MS greifen körpereigene Zellen des Immunsystems bekanntlich Isolationsschichten der Fortsätze von Nervenbahnen an. Signale vom Gehirn zu den Ausscheidungsorganen und umgekehrt werden dann nicht mehr richtig weitergeleitet. Auf diese Weise verlieren Patienten die Kontrolle über Stuhl oder Urin. Es gebe eine Fülle unterschiedlicher Funktionsstörungen, berichtet der Facharzt und betont: Die Ursache liegt im Nervensystem und nicht in Blase oder Darm selbst. Wichtig sei es, zu Beginn alle Beschwerden genau zu erfassen.

Den Druck bestimmen

Im Bereich der Blase kann MS zu einer Entleerungsstörung oder deren Gegenteil, einer Dranginkontinenz, führen. In jedem Fall ist eine Abklärung mithilfe weiterer Untersuchungen wichtig, etwa einer Blasendruckmessung, sagt der Neurourologe. Dazu schiebt er einen kleinen Schlauch, den Katheter, in die Blase und den Enddarm. Nachdem die Patienten uriniert haben, wird die Blase mit körperwarmer Infusionslösung gefüllt und der Druck bestimmt. Ein weiterer Sensor misst kontinuierlich den Druck im Darm. Während der Untersuchung erfassen Elektroden die Aktivität der Beckenbodenmuskulatur. Sie unterstützt die Schließmuskulatur der Harnblase und des Darms bei der Kontrolle von Ausscheidungen. Funktionsstörungen der Harnblase lassen sich auf diese Art und Weise exakt erfassen.

Besonders häufig kommt es bei MS zu einer Dranginkontinenz. Wenn Patienten dann einen Harndrang verspüren, kann es sein, dass ihr Urin schon auf dem Weg ist und die Blase sich wieder zusammenzieht. Etwas seltener treten Entleerungsstörungen auf, dabei bleibt selbst nach dem Toilettenbesuch ein Quäntchen Restharn in der Blase. Zurückzuführen sei das entweder auf eine Schwäche der Blasenmuskulatur oder eine Spastik (siehe Glossar auf Seite 12) im Bereich des Beckenbodens beziehungsweise des Schließmuskels, sagt Queißert. Mittelfristig erhöhen Entleerungsstörungen das Risiko, an Harnwegsinfektionen zu erkranken. Es kann zu Blasen- oder gar zu Nierenbeckenentzündungen kommen. Heute gelingt es Ärzten meist, die Beschwerden abzuschwächen – sie vollständig abklingen zu lassen, gelingt in der Regel nicht.

Training und Therapien

Beim Verdacht auf eine Dranginkontinenz führt Queißert eine Restharnmessung durch, um Entleerungsstörungen auszuschließen. Mit dem Ultraschallgerät sieht er, ob nach dem Toilettengang noch Urin in der Blase ist. Außerdem arbeitet der Urologe mit der Harnflussmessung auf einer speziellen Toilette. Der Arzt misst die abgegebene Harnmenge pro Zeiteinheit und vergleicht den Wert mit den Befunden gesunder Menschen. Finden wir keine Entleerungsstörungen, beginnen wir mit einem gezielten Blasentraining, sagt Queißert. Patienten lernen, ihren Harndrang etwas länger auszuhalten. Ziel ist, die Blase wieder an ein größeres Volumen zu gewöhnen. Hierbei arbeitet er eng mit einer Urotherapeutin zusammen.

Reicht das nicht aus, stehen Medikamente zur Verfügung, um das überaktive Organ zu beruhigen. Dabei werden die Wirkstoffe Oxybutinin, Darifenacin, Trospiumchlorid, Fesoterodin und Solifenacin als sogenannte Antimuskarinergika eingesetzt (siehe Glossar). Sie stoppen die Übertragung zu starker Nervenreize auf die Blasenmuskulatur. Mirabegron lindert die Beschwerden, indem es speziell die glatte Blasenwandmuskulatur entspannt. Auch Botulinumtoxin-A (Botox) lähmt überaktive Nerven. Bei der Anwendung schieben Ärzte einen dünnen, elastischen Schlauch mit einer Kamera über die Harnröhre bis in die Blase. Dann spritzen sie das Arzneimittel an zehn bis 20 Stellen in den Harnblasenmuskel. Eine weitere Therapiealternative besteht in der Implantation eines Blasenschrittmachers (siehe Kasten Seite 11).

Selbst Hand anlegen

Deutlich schlechter sieht die Sache bei einer Blasenentleerungsstörung aufgrund einer Muskelschwäche aus. In diesem Fall haben wir kaum Handlungsoptionen, sagt Fabian Queißert. Arzneistoffe, die früher eingesetzt wurden, entsprechen heute nicht mehr den medizinischen Leitlinien. Sie zeigen kaum Effekte, können aber viele Nebenwirkungen hervorrufen.

Patienten bleibt deshalb nur, sich nach Anleitung von Urotherapeuten selbst zu katheterisieren. Die Vorgehensweise sei leicht zu erlernen, sagt Queißert. Patienten entleeren ihre Blase über einen flexiblen Katheter – die Kosten für dieses Einmalmaterial werden von den Krankenkassen übernommen. Das ist zu Beginn lästig, aber wichtig, um Folgeerkrankungen zu vermeiden. Entleerungsstörungen können nämlich zu Infektionen führen. In seltenen Fällen kommt es sogar zur Blutvergiftung, der Sepsis. Dabei gelangen Bakterien in den ganzen Körper und greifen weitere Organe an. Eine häufig genannte Befürchtung von MS-Patienten kann der Arzt aber entkräften: Schwere Schäden an den Nieren treten bei MS eher selten auf.

Oft helfen einfache Mittel

MS betreffe nicht nur die Blase, sondern auch den Darm. Besonders oft komme es zu Verstopfungen, sagt Queißert, starker Stuhldrang mit Stuhlinkontinenz hingegen trete eher selten auf. Bei Entleerungsstörungen des Darms empfiehlt er in erster Linie ballaststoffreiche Kost und viel Flüssigkeit – mindestens zwei Liter pro Tag. Darüber hinaus hätten sich Flohsamenschalen, geschroteter Leinsamen und Milchzucker bewährt: Die Bestandteile werden gemischt und esslöffelweise eingenommen. Reichten solche Maßnahmen nicht aus, blieben Einläufe als weitere Möglichkeit. Darüber hinaus empfiehlt der Mediziner Abführzäpfchen mit dem Wirkstoff Bisacodyl. Sie seien, richtig angewendet, nicht so kritisch zu bewerten wie bisher angenommen. Schlimmer sei es, die Verstopfung nicht zu behandeln. Denn starkes Pressen beim Stuhlgang schwäche letztendlich die Muskulatur. Es könne zu Senkungen des Beckenbodens kommen, zu Entzündungen und Störungen der Darmflora aufgrund der überlangen Stuhlpassage.

Bei häufigen Blaseninfektionen mit oder ohne Fieber, unkontrolliertem Harnverlust oder Problemen beim Stuhlgang sollten sich Patienten an einen Neurourologen wenden, empfiehlt Queißert. Ihnen rät er, das schambehaftete Thema anzusprechen, denn in vielen Fällen könne man die Beschwerden rund um Blase oder Darm verringern. mh