Multiple Sklerose: Wie der Darm den Kopf regiert

Warum manche Menschen an Multipler Sklerose erkranken und andere nicht, weiß bisher niemand. Doch die Ursachenfahndung läuft auf Hochtouren und sie führt mitten in die körpereigene Mikrobenwelt.

Sie zerkleinern und verdauen, sie produzieren und transportieren: Milliarden von Darmbakterien, die den gesamten Körper mit Nährstoffen, Vitaminen und anderen lebenswichtigen Substanzen aus der Nahrung versorgen. Bei Erwachsenen kann die muntere Mikrobenwelt im Bauch etwa zwei Kilogramm wiegen und Hunderte verschiedene Arten umfassen. Für die Gesundheit ist dieses sogenannte Mikrobiom von zentraler Bedeutung und Störungen können zu einer Vielzahl chronischer Leiden führen – vermutlich auch zu neurologischen Erkrankungen wie MS.

Die Forschung boomt

Was der Darm im Gehirn anrichten kann, lassen erste Studien erahnen. Demnach sind Darmbakterien zum Beispiel in der Lage, autoimmune T-Zellen so zu aktivieren, dass sie ins Gehirn einwandern. Dort greifen sie die schützende Myelinschicht von Nervenzellen an, was die MS-typischen Symptome hervorrufen kann. Doch was veranlasst Darmkeime zu ihrem zerstörerischen Werk? Und gibt es ein spezifisches MS-Mikrobiom, das möglicherweise die Krankheit auslöst?

Das sind Fragen, mit denen sich seit 2015 eine multinationale Studie namens International MS Microbiome Study, kurz: IMSMS, beschäftigt. Durch regelmäßige Untersuchungen bei rund 2.000 Patienten und 2.000 gesunden Vergleichspersonen in den USA und Europa will man charakteristische Besonderheiten der Darmflora ermitteln. Es handelt sich um die bisher größte Studie auf diesem Gebiet, sagt Privatdozentin Dr. Anne-Katrin Pröbstel, die bis vor Kurzem an der University of California, San Francisco, forschte und derzeit am Universitätsspital Basel eine eigene Gruppe aufbaut.

Hoffnung auf ein Frühwarnsystem

Die Neurologin und Immunologin beteiligt sich nicht nur an IMSMS, sie wird auch einen wichtigen Part in einem noch umfassenderen Projekt im deutschsprachigen Raum übernehmen. Die Rolle des Darmmikrobioms bei MS – so lautet der Arbeitstitel der Studie, die derzeit mit Hochdruck vorbereitet wird (siehe Interview mit Dr. Arnfin Bergmann, Geschäftsführer des Ärztenetzwerks NTC, Seite 16). Die Studie wird erstmalig zeigen, wie sich unterschiedliche MS-Medikamente auf die Bakterienwelt im Verdauungstrakt auswirken – und zwar bis ins molekulare Detail, sagt Pröbstel.

Möglich wird das durch aufwändige Analysen der Genome von Patienten und ihrer Darmbakterien. Auf diese Weise finden wir hoffentlich heraus, welche Bakterien im individuellen Fall mit der Krankheit in Verbindung stehen, und zwar sowohl beim akuten Schub als auch beim Ansprechen auf eine Therapie, sagt Dr. Johannes Harter, der beim Tübinger Biotech-Unternehmen CeGaT zuständig für die MS-Mikrobiom-Studie ist. Harter hofft, dass die Ergebnisse zu Biomarkern führen, die zuverlässige Prognosen zu Entstehung und Krankheitsverlauf anhand der Geschehnisse im Darm erlauben.

Wir hätten dann endlich eine Art Frühwarnsystem für MS, sagt der Neurologe und Immunologe Dr. Refik Pul, der an der Universität Duisburg-Essen eine der bundesweit größten MS-Ambulanzen leitet. In Zukunft wird das Mikrobiom seiner Ansicht nach eine bedeutende Rolle in der MS-Therapie spielen – etwa mit Blick auf therapeutisch wirksame Ernährungsweisen (siehe Seite 18). Vorher müsse die Forschung aber noch mehr über die regulierende Funktion des Darms auf die Gesundheit herausfinden. 2023 könnte ein wegweisendes Jahr werden. Denn dann liegen voraussichtlich die abschließenden Ergebnisse des transnationalen IMSMS-Projekts und der deutschen MS-Mikrobiom-Studie vor. lb