Multiple Sklerose: Das Mikrobiom könnte der Schlüssel sein
Welchen Einfluss hat die Darmflora auf die Multiple Sklerose und wie reagiert die Bakterienwelt im Inneren auf gebräuchliche Medikamente? Fragen dieser Art wollen Forscher jetzt in einer neuen Studie nachgehen. Deren Ergebnisse könnten endlich zu einer maßgeschneiderten Therapie führen, hofft Dr. Arnfin Bergmann, der Geschäftsführer des Ärztenetzwerks NeuroTransConcept.
Herr Dr. Bergmann, es gibt schon eine Reihe von Studien zur Rolle des Mikrobioms bei MS. Sie planen jetzt eine weitere Untersuchung. Warum?
Weil bisherige Studien viele Fragen offen lassen. Wir wissen zum Beispiel bis heute nicht, ob die Bakterienbesiedlung des Darms bei MS-Patienten etwas mit der Aktivität bestimmter Risikogene zu tun hat. Sollte das der Fall sein, eröffnen sich uns ganz neue Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie. Auch über die unterschiedlichen Arten von Mikroben im Verdauungstrakt und ihre Stoffwechselprodukte ist noch viel zu wenig bekannt. Überhaupt liefern die vorliegenden Studien kaum belastbare Ergebnisse. Sie waren oft zu klein oder Faktoren, die das Darmmikrobiom beeinflussen – ganz wichtig ist hier zum Beispiel die Ernährungsweise – wurden nicht ausreichend berücksichtigt.
Diesen Mangel wird Ihre Studie beheben?
Das ist zumindest unser Ziel. Wir nehmen 1.600 Frauen und Männer in die Studie auf, darunter 800 MS-Patienten und 800 gesunde Vergleichspersonen, die jeweils mit einem der Patienten in einem Haushalt leben. Anhand von Blut- und Stuhlproben untersuchen wir dann, ob MS-Risikogene aktiv sind und wie das Darmmikrobiom im Detail zusammengesetzt ist. Im Blut wollen wir überdies den Gehalt der Vitamine D und Biotin sowie bestimmter Proteine, der Neurofilamente, bestimmen, um deren Bedeutung für die Krankheit besser einschätzen zu können. Darüber hinaus, und das ist ein ganz zentraler Punkt, untersuchen wir den Einfluss von acht häufig verordneten MS-Medikamenten auf das Mikrobiom der erkrankten Studienteilnehmer. Wir schauen uns zum Vergleich auch an, wie sich das Bakterienspektrum im Darm bei Patienten entwickelt, die sich keiner Arzneimitteltherapie unterziehen.
Wie erfassen Sie die Ernährungsweise?
Die Studienteilnehmer werden regelmäßig gebeten, Fragebögen auszufüllen. Ernährt sich der Befragte normal, vegetarisch oder vegan? Wie viele Portionen Obst, Gemüse, Milchprodukte, Fisch oder Fleisch werden täglich verzehrt? Sind Nahrungsergänzungsmittel im Spiel? Wie häufig steht Sport auf dem Programm? Das sind nur ein paar Beispiele aus einem umfangreichen Fragenkatalog.
Ihr Projekt klingt sehr ambitioniert. Wie wollen Sie es bewältigen?
Tatsächlich handelt es sich um eine Studie, wie es sie in dieser Größe und Differenziertheit weltweit noch nicht gab. So etwas kann unser Netzwerk niedergelassener Neurologen nicht allein schaffen. Deshalb arbeiten wir mit international ausgewiesenen Wissenschaftlern der Universitäten Duisburg-Essen und Basel zusammen, die ihre langjährige Expertise in der MS- und Mikrobiom-Forschung einbringen. Die genetischen Untersuchungen und die Mikrobiom-Analyse übernimmt das hochmodern ausgestattete Tübinger Biotechnologieunternehmen CeGaT.
Welche Rolle spielt das Ärztenetzwerk NTC im Projekt?
Wir beteiligen uns an der Auswahl von Studienteilnehmern. Dank unserer Datenbank wissen wir, welche MS-Patienten infrage kommen und können sie dann gezielt ansprechen. Weitere Teilnehmer werden in Basel und Essen gewonnen. Sobald Studienergebnisse vorliegen, werden sie wiederum in unserer Datenbank gespeichert.
Welche MS-Patienten kommen als Teilnehmer in Betracht?
Erwachsene Patienten mit schubförmig remittierender Krankheitsform, die einem der neun Therapiepfade der Studie folgen (siehe Kasten) und eine nicht an MS erkrankte Person in ihrem Haushalt überzeugen können, ebenfalls teilzunehmen.
Was erhoffen Sie sich von der Studie?
Dass wir schneller zu einer gezielten Therapie kommen. Heute werden oft noch vier bis fünf Medikamente ausprobiert, bis endlich das richtige Mittel gefunden ist. Dieser belastende Prozess kann zwei bis drei Jahre dauern. Künftig werden wir schneller zum Ziel kommen, weil wir das Genprofil und die Lebensweise unserer Patienten besser kennen und wissen, wie beides zusammenwirkt. Das Darmmikrobiom könnte dabei eine Schlüsselrolle spielen, denn seine Zusammensetzung hängt vom Verhalten ab, aber auch von der individuellen Genetik. Bei der Entstehung und im Verlauf der MS spielt beides eine Rolle, das wissen wir – was uns fehlt, ist das Verbindungsglied. Dieses Missing Link, um es in der Sprache der Evolutionsforschung zu sagen, könnte das Darmmikrobiom sein. Das ist meine große Hoffnung.
Was könnte das Patienten konkret bringen?
Denkbar sind Verbesserungen in Diagnostik und Therapie im Sinne einer personalisierten Behandlung. Möglicherweise kündigen sich Schübe weit im Voraus durch Veränderungen im Darmmikrobiom an und lassen sich dann vielleicht durch Medikamente oder Ernährungsumstellungen verhindern. Aber das ist nur eine Vision, so weit sind wir noch lange nicht.
Wann startet die Studie?
Voraussichtlich Ende des Jahres, aber vorher müssen wir noch die Finanzierung klären. Immerhin kostet die Studie voraussichtlich mehr als drei Millionen Euro.
Wie wollen Sie vorgehen?
Am realistischsten ist eine Kombination von öffentlichen Geldern, etwa von Seiten der EU, und von Fördermitteln aus der Pharmaindustrie, die großes Interesse an den Studienergebnissen zeigt.
Gefährdet das nicht die Unabhängigkeit der Studie?
Dieses Risiko haben wir im Blick und deshalb wollen wir möglichst viele Firmen ins Boot holen, die willens sind, uns mit ihren Beiträgen uneingeschränkt zu unterstützen. Zudem müssen alle Beteiligten damit einverstanden sein, dass wir die Ergebnisse der Studie – egal wie sie ausfallen – in einem internationalen Fachjournal publizieren.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Was sind die nächsten Etappen?
Jede Gruppe von MS-Patienten und Angehörigen wird eineinhalb Jahre begleitet und untersucht. Gegen Ende 2021 dürften wir alle Daten für die Auswertung beisammen haben. Mit den ersten Veröffentlichungen ist im Jahr 2023 zu rechnen. lb