Migräne: Gegen das Gewitter im Kopf

Etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland leidet an Migräne. Frauen sind deutlich öfter betroffen als Männer. Vollständig heilen lässt sich die Erkrankung noch nicht. Doch neue vorbeugend wirkende Medikamente und ein geregeltes Leben können helfen, die Häufigkeit der Attacken zu reduzieren und so die Lebensqualität wieder zu steigern.

Es sind Tage, an denen man sich am liebsten nur noch ins Bett verziehen möchte. Wenn die Migräne wieder einmal zuschlägt und im Kopf ein Nervengewitter tobt, sind die Schmerzen und oft auch die Übelkeit so stark, dass ein normaler Alltag undenkbar ist. Jedes Geräusch, jeder Lichtstrahl wird dann mitunter zur Qual.

Für Patienten mit starker Migräne zählt jeder einzelne Tag, an dem sie von den Attacken verschont bleiben, sagt Dr. Andreas Peikert, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie am Neurologicum Bremen und Experte für Kopfschmerzerkrankungen. Zum Glück ist es inzwischen fast immer möglich, die Zahl der Migräneanfälle spürbar zu senken.

Wir haben heute ganz gute Vorstellungen davon, wie die Migräne entsteht – weshalb wir sie auch besser als noch vor einigen Jahren in den Griff bekommen, sagt Peikert. Ihren Anfang nimmt eine Attacke ihm zufolge im ältesten Teil des menschlichen Gehirns, dem Hirnstamm. Dabei handelt es sich um eine nur etwa daumengroße Struktur, die das restliche Gehirn mit dem Rückenmark verbindet.

Im Hirnstamm sitzt eine Art Migränegenerator, erläutert Peikert. Dort werden – aus individuell oft recht verschiedenen Gründen – Nervenzellen aktiv. Die Zellen senden ihre Signale an den Trigeminusnerv, dessen oberer Ast bis hinter die Stirn zieht. Die Nervenimpulse lösen im Kopf eine Kaskade aus, also eine festgelegte Reihe elektrischer und biochemischer Reaktionen, in deren Folge sich die Blutgefäße der harten Hirnhaut entzünden, sagt Peikert. Die Gefäße schwellen dabei an, wodurch das pulsierende Blut die typischen pochenden Schmerzen erzeugt. Unbehandelt können die Qualen bis zu drei Tage lang anhalten.

Notfallsignale aus dem Gehirn

Die Kerngebiete des Trigeminus-Nervs fahren ihre Aktivität bei einer Migräneattacke nicht nur hoch, sondern sie habituieren auch schlechter, ergänzt Professorin Dagny Holle-Lee, die Leiterin des Kopfschmerz- und Schwindelzentrums am Universitätsklinikum Essen. Dadurch ist das Gehirn nicht mehr in der Lage, sich an äußere Reize zu gewöhnen. Ein gesunder Mensch hört beispielsweise Baulärm vor der Tür nach einiger Zeit nicht mehr, weil sein Gehirn die störenden Geräusche ignoriert, erklärt Holle-Lee. Das Gehirn eines Migränepatienten hingegen sendet während einer Attacke in einer vergleichbaren Situation immer weiter seine Notfallsignale.

Ausgelöst werden die Attacken durch ganz unterschiedliche Faktoren. Bei Frauen sind es oft hormonelle Veränderungen, etwa kurz vor dem Eisprung oder vor Beginn der Periode. Das ist auch der Grund, warum sich eine Migräne während einer Schwangerschaft oder in der Menopause oft bessert oder sogar ganz verschwindet, erläutert Holle-Lee. Zu den wichtigsten Auslösern, Trigger genannt, gehört bei Frauen und Männern gleichermaßen Stress. Oft allerdings auch gerade das Gegenteil: Vielfach nimmt eine Migräneattacke ihren Lauf, wenn eine stressige Phase beendet ist und man zur Ruhe kommt, beispielsweise am Wochenende oder am Anfang eines Urlaubs, sagt Holle-Lee.

Besser keine Extreme

Ähnlich paradox verhält es sich mit dem Schlaf. Sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel an Schlaf können eine Attacke hervorrufen. Am besten ist es, wenn man versucht, über die gesamte Woche hinweg einen möglichst gleichmäßigen Schlafrhythmus beizubehalten, rät Holle-Lee. Ebenso wichtig ist es der Expertin zufolge, regelmäßig zu essen und zu trinken. Der Einfluss bestimmter Nahrungs- oder Genussmittel werde bei der Entstehung eines Migräneanfalls allerdings überschätzt, sagt der Bremer Neurologe Peikert: Während Rotwein nicht selten Attacken auslöst, ist die Bedeutung von Kaffee, Käse oder Schokolade diesbezüglich eher gering – obwohl immer wieder davon zu lesen ist.

Um die persönlichen Trigger zu erkennen und sie im Anschluss nach Möglichkeit zu vermeiden, sollte man über mindestens drei Monate ein Migränetagebuch führen. Wer einen bestimmten Auslöser bereits in Verdacht hat, kann auf diese Weise am ehesten überprüfen, ob beispielsweise der Genuss von einem Glas Rotwein am Abend tatsächlich jedes Mal eine Migräneattacke nach sich zieht. Allerdings sollte man die Suche nach potenziellen Triggern Holle-Lee zufolge nicht übertreiben. Wer täglich nur noch voller Sorge sein Tun und dessen mögliche Konsequenzen prüft, bereitet sich selber Stress – und ebnet so eher den Weg für die nächste Attacke, anstatt sie zu vermeiden, sagt sie.

Bewährt hat sich auf alle Fälle Ausdauersport. Auch hier gilt ähnlich wie beim Essen, Trinken und Schlafen: Regelmäßigkeit ist alles. Besser man wird dreimal die Woche für eine halbe Stunde aktiv als einmal in der Woche für anderthalb Stunden, sagt Holle-Lee. Erlaubt ist alles, was Spaß macht: Walken, Joggen, Schwimmen, Fahrradfahren, Tanzen, Klettern, Rudern – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Entspannungsverfahren haben ebenfalls bereits in Studien bewiesen, dass sie in der Lage sind, die Zahl der Migräneattacken zu reduzieren. Auch hier sollte jeder Patient herausfinden, was ihm persönlich gut tut. Das können kurze Meditationseinheiten sein, autogenes Training, eine sanfte Variante des Yogas oder die progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Und wer sich am besten auf langen Spaziergängen oder beim Lesen eines Buches entspannt, sollte sich nicht scheuen, genau das möglichst häufig zu tun.

Vorbeugung als Nebeneffekt

Oft allerdings reichen solch vergleichsweise einfache Maßnahmen nicht aus, um der Migräne so weit vorzubeugen, dass das Leben mit ihr erträglich wird. Wer jeden Monat mehrere Male von einer schweren Attacke heimgesucht wird, die sich zudem mit Akutmedikamenten, den Triptanen, nicht gut behandeln lässt, sollte eine medikamentöse Prophylaxe in Betracht ziehen, sagt Holle-Lee. Noch bis vor Kurzem standen zu diesem Zweck ausschließlich Arzneien zur Verfügung, die ursprünglich gar nicht mit dem Ziel entwickelt worden waren, der Migräne vorzubeugen. Auf diesen zusätzlichen Effekt der Wirkstoffe war man per Zufall gestoßen. Inzwischen gibt es auch maßgeschneiderte Medikamente, die allerdings nicht für jeden Patienten geeignet sind.

Neue Medikamente

Zu den älteren vorbeugend wirkenden Substanzen gehören zum einen die Betablocker, die ansonsten vor allem bei Herzerkrankungen und Bluthochdruck verabreicht werden. Zum anderen haben sich die Wirkstoffe Amitriptylin, Flunarizin, Topiramat und Valproat bei vielen Migränepatienten als wirksam erwiesen. Amitriptylin ist ein Antidepressivum, Flunarizin ein Kalziumkanalblocker, der primär gegen bestimmte Formen des Schwindels verordnet wird. Topiramat und Valproat kommen auch bei Patienten mit Epilepsie zum Einsatz.

Patienten mit chronischer Migräne kann zudem Botulinumtoxin, kurz Botox, helfen. Es wird zur Prophylaxe in die Kopf- und Nackenmuskeln gespritzt. Von einer chronischen Migräne sprechen Mediziner bei mehr als 15 Kopfschmerztagen im Monat, wobei an mindestens acht Tagen weitere Migränesymptome hinzukommen müssen. Treten die Beschwerden seltener auf, wird die Migräne als episodisch bezeichnet.

Viele Patienten kommen mit einem der genannten Wirkstoffe gut zurecht. Andere hingegen leiden unter den Nebenwirkungen, zu denen beispielsweise Gewichtszunahme oder Gedächtnisprobleme gehören können. Und schließlich gibt es auch noch eine ganze Reihe von Migränepatienten, bei denen all diese Mittel schlicht keine Wirkung zeigen, sagt der Neurologe Peikert. Für sie – insbesondere dann, wenn die Migräne sehr stark ausgeprägt ist – stehen seit einiger Zeit drei neue, spezifisch für die Migräne entwickelte, vorbeugend wirkende Antikörper-Präparate zur Verfügung.

Allen drei Substanzen ist gemein, dass sie erstmals direkt in die physiologischen Prozesse eingreifen, bei denen die Gefäße der harten Hirnhaut anschwellen und so die typischen Migräneschmerzen hervorrufen, sagt Peikert. Die Antikörper verhindern in den Gefäßen die Wirkung des Botenstoffs CGRP (Calcitonin Gene Related Peptide), einer wichtigen Substanz in der Entzündungskaskade. Aufgrund ihrer spezifischen Wirkweise helfen die neuen Präparate oft und gerade auch solchen Patienten, bei denen andere Prophylaktika versagt haben, berichtet Peikert.

Während der eine CGRP-Antikörper in den Blutgefäßen des Gehirns den CGRP-Rezeptor blockiert, an den der Botenstoff andockt, heften sich die beiden anderen Antikörper hingegen an CGRP selbst an und unterbinden so die Wirkung des natürlich vorkommenden Neuropeptids.

Nur eine Injektion im Monat

Alle drei Wirkstoffe werden nicht als Tablette eingenommen, sondern subkutan, also unter die Haut, injiziert. Das kann der Patient mit ein wenig Übung selbst machen, so wie es beispielsweise auch Diabetiker jeden Tag tun. Um der Migräne vorzubeugen, reicht allerdings eine einzige Injektion alle vier Wochen aus. Einen der Wirkstoffe gibt es auch in einer Dosierung, die eine vierteljährliche Gabe ermöglicht.

In den Studien, die zur Zulassung der Antikörper geführt haben, erhielt eine Hälfte der Teilnehmer den echten Wirkstoff, die andere Hälfte ein Scheinpräparat. Wie sich herausstellte, waren unter den Probanden, die den Antikörper bekommen hatten, mit etwa 50 Prozent deutlich mehr Responder – also Patienten, bei denen sich die Zahl der monatlichen Migränetage mindestens halbierte – als unter den Teilnehmern, denen man nur ein Placebo verabreicht hatte, berichtet Peikert. Nebenwirkungen traten unter der Antikörper-Behandlung kaum häufiger auf als unter der Scheintherapie. Das hängt damit zusammen, dass die Antikörper nicht wie die anderen Prophylaktika im zentralen Nervensystem wirken, erläutert Peikert. Einige Patienten berichteten allerdings von einer leichten bis moderaten Verstopfung.

Nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich bei den neuen Präparaten somit um sehr effektive und zugleich nebenwirkungsarme Medikamente, die bei chronischer und episodischer Migräne die Zahl der kopfschmerzfreien Tage im Schnitt um sechs beziehungsweise vier Tage pro Monat erhöhen, sagt Peikert. Für die Betroffenen könne das einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten. Allerdings helfen die Substanzen nicht jedem Patienten.

Oft sehen wir eine Verbesserung bereits nach einer Woche, berichtet die Essener Ärztin Holle-Lee. Bei anderen Patienten kann es auch vier bis acht Wochen dauern, in Einzelfällen sogar noch länger. Ich würde daher jedem meiner Patienten, der generell für eine Therapie mit Antikörpern infrage kommt, dazu raten, das verordnete Mittel drei Monate lang auszuprobieren, sagt die Kopfschmerzexpertin. Sollte sich der gewünschte Erfolg, also eine deutliche Reduzierung der monatlichen Migränetage, nicht einstellen, könne man anschließend eines der anderen Präparate oder eine andere Dosierung ausprobieren. Zeichne sich auch auf diese Weise keine Besserung ab, sollte der Therapieversuch beendet werden. Dann scheint bei diesen Menschen der Botenstoff CGRP in der Entstehung der Migräne keine große Rolle zu spielen, sagt Holle-Lee.

Nicht für jeden Patienten geeignet

Nicht alle Patienten, denen mit den älteren Mitteln nicht geholfen werden kann, kommen für eine Antikörpertherapie in Betracht. Sehr vorsichtig wäre ich beispielsweise bei Patienten, die bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben oder ein hohes Risiko für eines dieser Ereignisse aufweisen, sagt Holle-Lee. Auch Menschen mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, wie Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa, würde ich von den neuen Wirkstoffen abraten, da diese Patienten CGRP dringend benötigen. Und schwangere Frauen sowie solche mit Kinderwunsch dürfen die Antikörper ebenfalls nicht einnehmen.

CGRP ist nämlich nicht nur an der Entstehung der Migräne, sondern auch an Stoffwechselprozessen vieler Organe beteiligt. Große Mengen des Botenstoffs finden sich beispielsweise im Darm. Darüber hinaus scheint das Molekül in den Blutgefäßen eine wichtige Rolle zu spielen. Einige Experten vermuten, dass es dort vor Durchblutungsstörungen und Bluthochdruck schützt. Derzeit ist noch unklar, ob eine Langzeitbehandlung über viele Jahre hinweg möglicherweise zu Folgeschäden führt, sagt Peikert.

Massnahmen kombinieren

Ob eine so lange Therapie überhaupt notwendig ist, weiß man ebenfalls noch nicht. Es gibt bisher keine Studien zu der Frage, ob die Migräne nach dem Abbruch einer Behandlung mit Antikörpern in alter Stärke wiederkehrt oder sich womöglich dauerhaft bessert, sagt Peikert. Holle-Lee rät aus diesem Grund dazu, nach einem Jahr erfolgreicher Therapie die Antikörper versuchsweise wieder abzusetzen. Vielleicht haben sich die Prozesse im Gehirn bis dahin so weit normalisiert, dass auch ohne Medikamente weniger Attacken auftreten, sagt sie.

Vor allem den Krankenkassen dürfte daran gelegen sein, eine Therapie mit CGRP-Antikörpern nur dann anzuwenden, wenn sie wirklich erforderlich und effektiv ist. Denn preiswert sind die neuen Präparate nicht. So kostet eine einmalige Dosis Antikörper derzeit knapp 700 Euro. Pro Jahr kommen demnach leicht Behandlungskosten von rund 8.000 Euro zusammen – während eine Prophylaxe mit einem der älteren Präparate gerade mal bei 50 bis 200 Euro jährlich liegt.

Doch auch ganz unabhängig von den Kosten sollte eine Migräneprophylaxe nie ausschließlich mithilfe von Arzneien erfolgen, betont Holle-Lee. Wichtig ist immer die Kombination medikamentöser und nicht medikamentöser Maßnahmen. Und noch ein Thema liegt der Kopfschmerzexpertin am Herzen: Kein Patient sollte mit einer vollständigen Befreiung von seinen Beschwerden rechnen, sagt sie. Dazu sind auch die besten Präparate höchstens in ganz vereinzelten Fällen in der Lage. Eine Halbierung der Kopfschmerztage gelte bereits als guter Erfolg. ab