Sucht: Wenn aus Spiel Sucht wird
Millionen Menschen hierzulande verbringen ihre Zeit mit Computerspielen. Für die meisten ist es einfach ein Hobby, das Spaß macht. Doch manche lässt die Onlinewelt nicht mehr los. Seit Kurzem gilt die Computerspielsucht sogar als eine von der WHO anerkannte Erkrankung. Das könnte es den Betroffenen erleichtern, Hilfe zu finden.
Gut zwölf Stunden saß Dominik Tag für Tag in seinem Zimmer am Computer und spielte. Bis er im Mai dieses Jahres erkannte, dass er süchtig danach war. Parallel dazu litt der 18-Jährige an Übergewicht, Ängsten, Depressionen und sozialer Phobie. Bisher war sein Leben, so empfand es der junge Mann, von Verspottung und Gewalt geprägt. Das sollte sich nun ändern – Dominiks Entschluss stand fest. Er begann eine teilstationäre The-rapie, in der ihm mithilfe vieler Ge- spräche, Übungen und auch Medikamenten geholfen wurde. Nur wenige Wochen nach Therapiebeginn entdeckte Dominik zudem seine Liebe zum Radsport. Heute kann er sich ein Leben ohne diesen Sport gar nicht mehr vorstellen. Er habe fast zwanzig Kilo abgenommen, seine Ernährung umgestellt und sich einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, berichtet er auf Facebook. Und er sei unfassbar stolz auf sich und auf das, was er geschafft habe. Am Computer sitzt Dominik auch noch manchmal. Doch der beherrscht nicht länger sein Leben. Mit seinem früheren Hobby ist Dominik kein Einzelfall. Fast drei Vier-tel aller Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren in Deutschland spielen regelmäßig am Computer: knapp 90 Prozent der Jungen und gut 50 Prozent der Mädchen. Das hat eine im März veröffentlichte Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen ergeben, für die rund 1.000 Jugendliche befragt wor- den waren. Spiele wie Fortnite, FIFA oder Minecraft stehen demnach gerade bei den Jungs hoch im Kurs.
Täglich viele Stunden am Bildschirm
Sorgen muss man sich um die meis-ten von ihnen aber nicht machen. Doch immerhin 15,4 Prozent der Minderjährigen in Deutschland gelten der Studie zufolge zumindest als sogenannte Risiko-Gamer. Diese rund 465.000 Jugendlichen – knapp 80 Pro-zent von ihnen sind männlichen Geschlechts – zeigen ein riskantes oder pathologisches Verhalten im Sinne einer Spielsucht: Sie sitzen täglich viele Stunden am Bildschirm, fehlen häufiger in der Schule, haben mehr emotionale Probleme und geben deutlich mehr Geld aus als Gleichaltrige, die weniger Zeit mit Computerspielen verbringen. 3,3 Prozent der Jugendlichen erfüllen laut der Untersuchung sogar die Kriterien einer echten Verhaltensabhängigkeit. Auch die WHO hat das Problem in- zwischen registriert und im Mai die Computerspielsucht unter dem eng-lischen Begriff Gaming Disorder als eigenständige Erkrankung anerkannt und in ihren weltweit geltenden Kata-log der Krankheitsbilder ICD (Inter-national Classification of Diseases) aufgenommen. Experten hoffen, dass sich die Computerspielsucht dadurch künftig besser diagnostizieren und behandeln lässt. Nach den Kriterien der WHO gelten vorläufigen Zahlen zufolge etwa 3 Prozent aller Computerspieler als abhängig.
Sich selbst testen
Um von einer echten Sucht zu sprechen, müssen einige Faktoren zusammenkommen. »Als ein zentrales Symp-tom gilt der Kontrollverlust, sagt Professor Christian Montag, der an der Universität Ulm die Abteilung Molekulare Psychologie leitet und sich seit vielen Jahren mit den Themen Computerspielsucht und Smartphone-Abhängigkeit beschäftigt. »Das Spielen rückt immer mehr in den Vordergrund und andere Dinge werden dafür vernachlässigt, sagt Montag. »Selbst wenn negative Konsequenzen drohen, wird weitergezockt. Darüber hinaus muss das Spielen so exzessiv betrieben werden, dass es zu signifikanten Beeinträchtigungen im beruflichen oder privaten Leben kommt, also beispielsweise ein Ausbildungsplatz verloren oder eine Beziehung in die Brüche geht. »Für eine gesicherte Diagnose sollte das geschilderte Verhalten zudem mindestens zwölf Monate lang bestehen, sagt Montag. »Denn wir sollten vermeiden, ein gesundes Spielverhalten zu pathologisieren, also unnötig als krankhaft einzustufen, betont der Experte. Wer sich, was das eigene Spielverhalten betrifft, nicht sicher ist, kann im Internet einen Selbsttest vornehmen, den Montag und seine Kollegen entwickelt haben (). Einen ganz ähnlichen Test gibt es zum Gebrauch des Smartphones (). »Auch die intensive Nutzung von Social-Media-Apps wie Facebook und Instagram oder von Messenger-Kanälen wie Whatsapp und Snapchat auf dem Smartphone kann insbesondere bei jungen Mädchen zu
einem problematischen Verhalten füh-ren, das Ähnlichkeiten zur Sucht aufweist, sagt Montag.
Online erfolgreich
Im Vordergrund steht dabei fast immer die Angst, etwas zu verpassen und infolgedessen nicht mitreden zu können. Wissenschaftler bezeichnen das Phänomen als FOMO, eine Abkürzung für die englische Bezeichnung »Fear of missing out. »Es ist eine Form von sozialem Druck, der durch das Design der Social-Media-Plattformen befeuert wird und der die Nutzer der besagten Apps immer wieder online gehen lässt, sagt Montag. Zunächst ist der ständige Blick aufs Handy vielleicht nur eine schlechte Gewohnheit. »Irgendwann unterbrechen wir uns aber durch das Gerät so oft, dass die Einheiten dazwischen zu kurz werden, um konzentriert etwas wegarbeiten zu können, sagt der Experte. Und zuweilen entstehe aus der Gewohnheit heraus dann ein suchtähnliches Verhalten. Allerdings werde der Begriff »Sucht in Bezug auf das Smartphone und die Nutzung von Social-Media-Apps derzeit noch kontrovers diskutiert, so Montag. Die Ursachen der Gaming Disorder sind bereits besser erforscht. Zum Teil haben die Betroffenen Montag zufolge ein geringes Selbstwertgefühl und Probleme in der direkten Kommunikation von Mensch zu Mensch. »Im echten Leben, also in der Schule, im Beruf oder im privaten Bereich, bleiben die positiven Erlebnisse dadurch vielfach aus, sagt Montag. »In der Onlinewelt hin-gegen finden sie statt, mit zunehmender Spielerfahrung sogar immer öfter. Das könne eine Negativspirale in Gang setzen: Während die Erfolge am Computer zunehmen, werden sie in der Offlinewelt noch seltener. Im Gehirn, so haben Forscher mittlerweile erkannt, spielen sich bei der Entwicklung einer Verhaltensabhängigkeit zum Teil ganz ähnliche Prozesse ab wie bei der Sucht nach bestimmten Substanzen. So kann beispielsweise allein ein Bild des Lieblingsspiels das Belohnungszentrum im ventralen Striatum, einem Teil des Großhirns, in gleicher Weise aktivieren, wie man es früher nur von einer Flasche Bier oder Schnaps bei Alkoholikern kannte.
Zudem haben Wissenschaftler he- rausgefunden, dass Süchtige jedweder Art im ventralen Striatum weniger Rezeptoren für den Botenstoff Dopamin haben, der als eine Art Glückshormon gilt. Zwar weiß man noch nicht genau, ob die geringere Rezeptorendichte eine Ursache oder eine Folge der Sucht ist – oder vielleicht sogar beides. Doch zumindest könnte die Beobachtung erklären, warum die Betroffenen von ihrer Droge, sei es nun der Alkohol, eine andere Substanz oder eben ein Computerspiel, immer höhere Dosen benötigen.
Komplette Abstinenz ist nicht das Ziel
Wer erkannt hat, dass der Computer oder das Smartphone eine Macht über das eigene Leben gewonnen hat, die nicht mehr gesund ist, sollte sich nicht scheuen, professionelle Hilfe zu suchen. Zwar existiert, anders als für Menschen, die süchtig nach Alkohol, Drogen oder Medikamenten sind, für Verhaltensabhängige noch längst nicht in jeder Stadt eine geeignete Anlaufstelle. Meist kann aber der Hausarzt dabei helfen, einen geeigneten Therapeuten zu finden, mit dessen Unterstützung es gelingen kann, die Sucht in den Griff zu bekommen. Für besonders schwer Betroffene gibt es zudem Kliniken, die sich auf die Behandlung von Verhaltensabhängigkeiten spezialisiert haben, unter anderem in Bonn, Mainz und Dießen am Ammersee. Die Kliniken bieten sowohl ambulante als auch stationäre Therapien an, die meistens sowohl Einzel- als auch Gruppensitzungen umfassen. Ziel der mehrwöchigen, manchmal auch mehrmonatigen Therapien ist es, neue Verhaltensweisen zu erlernen, die anschließend auch im Alltag Bestand haben. »Gerade während einer stationären Therapie, wenn der Süchtige also für einen bestimmten Zeitraum dauerhaft in der Klinik verweilt, ist es nach anfänglichen Schwierigkeiten meistens nicht allzu schwer, auf das geliebte Spiel oder das Smartphone zu verzichten, sagt Montag. »Die wesentlich größere Herausforderung ist es, im anschließenden Alltag standhaft zu bleiben. Dabei sei die komplette Abstinenz vom Computer oder Handy nicht das Ziel, sondern lediglich ein anderer Umgang mit den Geräten – der allerdings den Verzicht auf das frühere Lieblingsspiel oder eine bestimmte App durchaus beinhalten könne.
Handyfreie Zonen
Wer zuvor das Smartphone kaum noch aus der Hand habe legen können, dem helfe es, unterwegs das Gerät nicht mehr in der Jackentasche zu tragen, sondern beispielsweise gut verstaut im Rucksack, rät Montag. Der automatisierte Griff nach dem Handy werde dadurch erschwert. Auch sei es sinnvoll, wieder eine Armbanduhr zu tragen und sich einen Wecker zuzulegen, sagt Montag. Wer das Handy dennoch als Wecker nutzen wolle, solle es lautgestellt im Nebenraum liegen lassen – und nicht im Schlafzimmer. »Wir alle müssen generell wieder lernen, uns mehr handyfreie Zonen zu schaffen, sagt Montag. Am Esstisch etwa sollte das Gerät generell tabu sein. Solche Maßnahmen würden auch und insbesondere für besorgte Eltern gelten, betont der Experte. »Kinder lernen am Modell, sagt er. »Deswegen müssen Eltern auch ihr eigenes Verhalten immer wieder kritisch überprüfen. Im Übrigen sollte kein Kind vor dem zwölften Lebensjahr ein eigenes Smartphone oder einen eigenen Computer erhalten, empfiehlt Montag.
Spielzeit begrenzen
Beim Spielen am Computer sei es zudem sinnvoll, einen Timer zu nutzen und die Spielzeit vorab zum Beispiel auf zwei Stunden zu begrenzen, sagt der Wissenschaftler. Das allerdings gelingt bei einem ehemals Süchtigen in aller Regel nur dann, wenn der Betroffene zuvor in der Therapie gelernt hat, das verzerrte Bild von sich selbst – in der Onlinewelt bin ich jemand, in der Offlinewelt nicht – zurechtzurücken. Um dieses Ziel zu erreichen, hilft es sehr, wenn der Abhängige an frühere Erfolge im »echten Leben, etwa bei einem fast schon vergessenen Hobby, wieder anknüpfen kann. Ein sportliches Hobby, so wie bei Dominik das Radfahren, leistet oft besonders wertvolle Dienste. »Vielfach gehen Verhaltensabhängigkeiten mit Depressionen einher, sagt Montag. »Und inzwischen gilt es als wissenschaftlich bewiesen, dass körperliche Bewegung antidepressive Wirkungen hat. Regelmäßig betriebener Sport macht es somit um Vieles leichter, immer häufiger einfach mal offline zu bleiben.