Sucht: Suchtkranke müssen erst erkennen, dass sie ein Problem haben

Deutschlandweit gelten unzählige Menschen als abhängig. NTC-Ärztin Dr. Hildegund Weber erläutert, woran man eine Sucht erkennt, wie sie entsteht, wodurch sich Substanz- von Verhaltensabhängigkeiten unterscheiden und wo die Betroffenen Hilfe finden.

Frau Dr. Weber, wie macht sich eine Suchterkrankung bemerkbar?

Unter einer Sucht beziehungsweise Abhängigkeit versteht man ein unwiderstehliches Verlangen nach einer Substanz oder einer Verhaltensweise. Das bedeutet, dass man nicht mehr ohne das Suchtmittel leben kann oder einen zwanghaften Drang verspürt, ein bestimmtes Verhalten auszuüben. Zu den wichtigsten suchtauslösenden Substanzen gehören Nikotin, Alkohol, Medikamente und Drogen. Verhaltensabhängigkeiten kennt man zum Beispiel von Glücks- und Computerspielern oder auch bei einer übermäßigen Internet- oder Handynutzung. Weitere Symptome einer Sucht sind neben dem starken Konsumwunsch, dem sogenannten Suchtdruck, eine verminderte Kontrolle über den Beginn und das Ende des Gebrauchs, eine Steigerung der Menge oder der aufgewendeten Zeit, das Auftreten von Entzugssymptomen sowie die Vernachlässigung beruflicher und privater Aktivitäten und Aufgaben.

Ist Suchtverhalten vererbbar?

Ja, es gibt eine erbliche Komponente. Kinder von suchtmittelabhängigen Eltern werden statistisch gesehen später häufiger selbst abhängig. Man hat auch einige Genvarianten entdeckt, die manche Menschen anfälliger für Alkoholismus und andere Süchte machen. Neben den Variationen im Erbgut werden zusätzlich sogenannte epigenetische Veränderungen vermutet. Dabei handelt es sich um Anlagerungen an das Erbgut, die das Ablesen der Gene beeinflussen und ebenso wie die Gene selbst an die Nachkommen vererbt werden können. Die Anlagerungen beeinflussen den Stoffwechsel im Belohnungssystem des Gehirns und führen so nachhaltig zu einer erhöhten Suchtanfälligkeit.

Welche Rolle spielt die Persönlichkeit bei der Entstehung einer Sucht?

Es gibt keine typische Persönlichkeit von Abhängigen. Lediglich bei Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, also einem gestörten und verantwortungslosen Sozialverhalten, lässt sich ein erhöhtes Suchtrisiko nachweisen. Allerdings können einige Persönlichkeitsfaktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Sucht durchaus eine Rolle spielen. Dazu gehören zum Beispiel mangelnde Konfliktfähigkeit, ein instabiles Selbstwertgefühl, Störungen in der Beziehungsfähigkeit, eine eingeschränkte Stressbewältigung und eine geringe Frustrationstoleranz.

Welche Rolle nimmt das Umfeld ein?

Das Umfeld spielt bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Sucht-erkrankung eine große Rolle. So orientieren sich Kinder in ihren Reaktionen häufig an den Verhaltensweisen, die sie von ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten vorgelebt bekommen. Wenn zum Beispiel täglicher Alkoholkonsum zum Erfahrungsschatz heranwachsender Kinder gehört, verwundert es wenig, wenn diese ihre Konflikte früher oder später auf dieselbe Art zu lösen versuchen. Eine desolate Familienstruktur, mangelnde Zuwendung und Fürsorge sowie Gewalt und Missbrauch erhöhen ebenfalls das Risiko, dass die Betroffenen nicht verarbeitete Kindheitstraumen und unangenehme Erinnerungen durch Substanzkonsum betäuben.

Was weiß man über die physio-logischen Ursachen einer Suchterkrankung?

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich bestimmte Prozesse im Hirnstamm, dem ältesten Teil des menschlichen Gehirns, mit der Zeit stark verändern. Für die Symptome und das Fortbestehen einer Suchterkrankung haben diese Veränderungen eine gravierende Bedeutung. Zu den Aufgaben des Hirnstamms gehört es, lebenswichtige körperliche Prozesse wie die Atmung, den Schlaf-Wach-Rhythmus oder den Hunger zu steuern. Daneben gibt es im Hirnstamm ein alteingesessenes Belohnungszentrum,
das im Wesentlichen mit dem Botenstoff Dopamin arbeitet. Die Ausschüttung von Dopamin erzeugt ein angenehmes Gefühl und bewirkt, dass erfolgreiches Verhalten emotional bestärkt und im Gedächtnis verankert wird. Ausgelöst wird die Ausschüttung beispielsweise durch soziale Kontakte, kreative Tätigkeiten, leckeres Essen – oder eben auch durch den Konsum von Suchtmitteln. Letzterer führt allerdings zu so großen Mengen von Dopamin im Gehirn, dass der Botenstoff eine Bedrohung für die Hirnzellen darstellt. Diese bauen daher Schutzmechanismen auf, die sich durch zunehmende Toleranz gegenüber dem Suchtmittel und Entzugserscheinungen bemerkbar machen.

Gibt es eine Verwandtschaft von Substanz- und Verhaltensabhängigkeiten? Oder anders gefragt: Wo finden sich Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede – zum Beispiel zwischen einer Alkohol- und einer Spielsucht?

Die physiologischen Ursachen der beiden Süchte sind relativ identisch. Dennoch unterscheiden sie sich in mehreren Punkten. Bei einer Alkoholsucht wird von außen ein Suchtmittel zugeführt, während eine Verhaltenssucht allein auf körpereigenen Botenstoffen basiert. Deshalb kann das Ausmaß der Überschwemmung des Gehirns mit Botenstoffen beim Konsum von Alkohol um ein Vielfaches höher sein als bei süchtig machenden Verhaltensweisen. Bei der Alkoholkrankheit ist eine körperliche Abhängigkeit möglich, während es bei Verhaltensabhängigkeiten bei einer psychischen Sucht bleibt. Der direkte gesundheitliche Schaden einer substanzgebundenen Sucht ist in der Regel deutlich schwerer als der einer Verhaltenssucht. Und während ein Alkoholentzug den Betroffenen stark beeinträchtigen kann, sind die körperlichen Entzugssymptome einer Verhaltenssucht vergleichsweise harmlos. Die sozialen Folgen können bei beiden Arten von Süchten gravierend sein. Eine Glücksspielsucht etwa kann eine Existenz völlig ruinieren.

Sollte man Menschen, bei denen man Suchtverhalten feststellt, direkt darauf ansprechen?

Ja, aber nicht im Sinne einer Konfrontation, das heißt mit Vorwürfen, sondern mit einer akzeptierenden und wertschätzenden Haltung, die die Eigenverantwortung und Motivation des anderen fördert. Suchtkranke kennen ihr Problem und erleben es oft als eigenes Versagen, verbunden mit Schuldgefühlen und Scham. Verständnis und Begleitung fördern eher den Weg aus der Ambivalenz zwischen der Furcht, sich mit der Suchterkrankung auseinanderzusetzen, und dem Wunsch nach Veränderung des eigenen Verhaltens.

Wie können Betroffene gezielt an medizinische und therapeutische Hilfsangebote herangeführt werden?

Zunächst ist wichtig, mit dem Suchtkranken realistische Ziele zu definieren, die oft weit vor einer Bereitschaft zur absoluten Abstinenz ansetzen. Diese Ziele reichen von der Sicherung eines möglichst gesunden Überlebens über eine Reduktion des Suchtmittelkonsums oder den Aufbau suchtmittelfreier Phasen bis hin zu einer Lebensgestaltung in Zufriedenheit. Zum Erreichen dieser Ziele steht in Deutschland ein umfangreiches Suchthilfesystem aus ambulanten, teilstationären und stationären Angeboten zur Verfügung. Auch Selbsthilfegruppen können wertvollen Beistand leisten. Als erste Anlaufstelle empfehlen sich Suchtberatungsstellen, die kostenlos und anonym Beratung anbieten.

Ist Hilfe nur möglich, wenn der Betroffene selbst einsieht, dass er ein Suchtverhalten entwickelt hat?

Die Selbsthilfeorganisation für Alkoholkranke, die Anonymen Alkoholiker, haben den Satz geprägt: Alkoholiker müssen erst ihren persönlichen Tiefpunkt erreichen, bevor man ihnen helfen kann. Jeder Betroffene muss anerkennen, eine Suchtproblematik zu haben, bevor er Hilfe zulassen kann.

Welche Anlaufstellen gibt es für Angehörige?

Das Hilfesystem für Angehörige ist leider bei Weitem nicht so differenziert wie das für die Suchtkranken selbst. Aber auch Angehörige können Selbsthilfegruppen aufsuchen, im Falle einer Alkoholsucht zum Beispiel Al-Anon, oder sich professionelle Unterstützung in einer Psychotherapie oder bei Beratungsstellen holen.