chronisch krank: Ein früher Therapiebeginn ist ratsam

Neuromuskuläre Erkrankungen lassen sich inzwischen sehr viel besser behandeln als noch vor einigen Jahren. Welche Therapien es gibt und was bei ihnen zu beachten ist, erklärt Professor Ulrike Schara.

Frau Professor Schara, was weiß man bislang über die Entstehung neuromuskulärer Erkrankungen?

Diese Krankheiten können praktisch in jedem Lebensalter ihren Anfang nehmen. Manchmal machen sich die ersten Symptome schon im Mutterleib bemerkbar, weil sich das Ungeborene in der Gebärmutter kaum bewegt. Andere Kinder werden erst bei der Geburt auffällig, etwa weil sie schlecht atmen, schlucken oder saugen. Gerade die erblich bedingten Erkrankungen wie die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, kurz DMD, oder die Spinale Muskelatrophie, SMA, manifestieren sich oft schon sehr früh.

Zuweilen entwickeln sich Kinder mit solchen genetischen Störungen in den ersten Jahren aber noch ganz normal und haben erst später im Leben mit Muskelschwäche zu kämpfen. Ähnliches gilt natürlich auch für erworbene neuromuskuläre Erkrankungen, etwa aufgrund von Nervenverletzungen oder Entzündungen.

Wie werden neuromuskuläre Erkrankungen diagnostiziert und was ist das Schwierige daran?

Viele der Krankheiten beginnen mit recht unspezifischen Symptomen. Zudem unterscheiden sich die Beschwerden hinsichtlich ihrer Schwere und des Alters, in dem sie erstmalig auftreten. Darüber hinaus können sie überlappend sein. Das heißt, unterschiedliche Erkrankungen mit ganz verschiedenen Ursachen rufen zum Teil die gleichen Symptome hervor. Der behandelnde Arzt muss also zunächst eine gründliche Bestandsaufnahme machen, sowohl von der Krankheitsgeschichte des Patienten selbst als auch von dessen Familie.

Um zu einer sicheren Diagnose zu gelangen, können sich eine Reihe von Untersuchungen anschließen: Bluttests, neurophysiologische Tests, bildgebende Verfahren wie Ultraschall oder Kernspintomografie, Muskel- und Nervenbiopsien sowie zunehmend die genetischen Tests. Jede dieser Untersuchungen hat ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Gerade die genetischen Tests sind bei den neuromuskulären Erkrankungen viel komplizierter, als wenn es zum Beispiel darum geht, ein Down-Syndrom zu erfassen.

Welche neuromuskulären Erkrankungen lassen sich inzwischen medikamentös behandeln? Und mit welchen Erfolgen?

Unterschiedliche medikamentöse Therapieansätze gibt es mittlerweile für die kongenitalen myasthenen Syndrome sowie für SMA und DMD. Mit den noch recht neuen Wirkstoffen lassen sich diese genetisch bedingten Erkrankungen zwar nicht heilen. Doch zumindest bei einem Teil der Betroffenen kann der Verlauf positiv beeinflusst werden.

Auf welche Weise wirken die neuen Medikamente im Körper?

Ihre Effekte sind sehr unterschiedlich. Nusinersen beispielsweise, das hierzulande seit Sommer 2017 gegen SMA zugelassen ist, steigert die Aktivität des SMN2-Gens. Diese Erbanlage bewirkt gemeinsam mit dem SMN1-Gen im Körper die Herstellung des Proteins SMN. Das Protein ist für das Überleben vieler Zellen wichtig, besonders aber für das bestimmter Nervenzellen, der Motoneuronen, und wird von SMA-Patienten aufgrund von Mutationen im SMN1-Gen nicht in ausreichenden Mengen hergestellt.

Um eine bestimmte Form der DMD mit sogenannten Punktmutationen zu behandeln, gibt es das Medikament Ataluren. Es bewirkt, dass fehlerhafte Stellen des Dystrophin-Gens im Verlauf der Herstellung des entsprechenden Proteins überlesen werden. Dadurch können die Muskelzellen Dystrophin, das Duchenne-Patienten fehlt, zumindest in geringen Mengen wieder selbst herstellen. Darüber hinaus lässt sich das Voranschreiten der DMD mit Kortison verlangsamen.

Auf welchen Ansätzen ruhen die größten Hoffnungen für die Zukunft?

Die meisten Erwartungen werden derzeit in die Gentherapie gesetzt, die in Deutschland aber noch nicht zugelassen ist. Von ihr erhofft man sich, dass Patienten, bei denen noch keine oder nur geringe Symptome vorhanden sind, tatsächlich geheilt werden können – weil der Fehler im Erbgut, welcher der Erkrankung zugrunde liegt, mit dem eingesetzten Wirkstoff ja repariert werden soll.

Für welche der erblich bedingten Erkrankungen wird es voraussichtlich schon bald Gentherapien geben?

In den USA ist eine Gentherapie gegen SMA für Kinder bis zu einem Alter von zwei Jahren schon seit Mai 2019 zugelassen. Erste positive Effekte lassen sich dort bereits beobachten. Derzeit läuft das Zulassungsverfahren bei der europäischen Arzneimittelbehörde. Eine Gentherapie gegen die Duchenne-Muskeldystrophie wird derzeit in Studien untersucht – ebenso wie für die Gliedergürteldystrophien und die myotubuläre Myopathie mit verändertem MTM1-Gen.

Was sind die möglichen Gefahren der Gentherapie?

Das größte Risiko ist derzeit sicherlich, dass der Körper mit einer schweren allergischen Reaktion auf den injizierten Wirkstoff antworten kann. Zudem bleibt abzuwarten, ob das Gentherapeutikum nicht auch Änderungen an Organen vornimmt, bei denen man diese Wirkung gar nicht haben möchte. Darüber hinaus kann die Behandlung, die ja nur ein einziges Mal erfolgt, eventuell Leberschäden mit sich bringen. Das liegt möglicherweise an den verwendeten Viren, über die der Wirkstoff in die Muskelzellen eingeschleust wird. Vermutlich aber kennen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht alle Risiken der Gentherapie.

Werden insbesondere Kinder oder auch erwachsene Patienten, die schon länger erkrankt sind, von den neuen Möglichkeiten profitieren?

Das bleibt abzuwarten. Momentan gehen wir davon aus, dass eine möglichst frühzeitige Behandlung – am besten, noch ehe die ersten Symptome sichtbar werden – die größten Erfolge mit sich bringt. Allerdings hat man zum Beispiel in der Augenheilkunde gesehen, dass auch erwachsene Patienten von einer Gentherapie profitieren können. Für die neuromuskulären Erkrankungen liegen diesbezüglich aber noch keine Daten vor.

Welchen Stellenwert werden die klassischen Ansätze wie Physio-, Ergo- und Logotherapie künftig haben?

Kein noch so modernes Medikament kann die multiprofessionelle Betreuung der Patienten ersetzen. Wir Kinderneurologen und Neurologen arbeiten mit einer Vielzahl von Ärzten und Therapeuten zusammen. Neben Orthopäden, Lungen-, Herz- und Hormonspezialisten gehören auch Physio-, Ergo- und Logotherapeuten zu diesem Team. Ich denke, daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Es sei denn, ein Patient erhält ein bei ihm sehr gut wirkendes Medikament tatsächlich so früh, dass er erst gar keine Symptome entwickelt. Selbst milde Beschwerden sollten aber auch künftig gut behandelt werden. Ohne die klassischen Ansätze wird das nicht gehen.