Psyche: Selbstverletzung – ein stummer Schrei nach Hilfe
Immer mehr Kinder und Jugendliche ritzen sich bewusst die Haut auf oder fügen sich andere Wunden zu. Das Verhalten ist ein Zeichen für einen psychischen Notstand. Für Betroffene und Angehörige gibt es fachkundige Hilfe.
Die Eltern von Mara waren geschockt, als sie bei ihrer 13-jährigen Tochter Wunden an Armen, Beinen und Schultern fanden. Das Kind hatte sich die Verletzungen selbst zugefügt. Das muss von Mitte August bis Mitte Oktober 2016 passiert sein, vermutet die Mutter. In den Sommerferien zuvor sei die Haut ihrer Tochter noch unbeschädigt gewesen.
Mara Welters aus Oberhausen* ist kein Einzelfall, im Gegenteil. Fast ein Drittel der 15-Jährigen hat schon einmal Erfahrungen mit Selbstverletzungen gemacht. »Die Anzahl der Selbstverletzungen nimmt bei Kindern und Jugendlichen seit den 1990er-Jahren markant zu«, sagt Professor Franz Resch, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg.
Den Anstieg der Zahlen erklärt Resch damit, dass die Betroffenen vermehrt selbstverletzendes Verhalten nachahmen, wenn sie es zum Beispiel in den sozialen Netzwerken sehen oder wenn ein Freund oder eine Freundin es macht. »Die meisten Jugendlichen geben dieses Verhalten nach einiger Zeit wieder auf«, sagt Resch. Dennoch sollten Angehörige, Freunde oder Lehrpersonen es ernst nehmen. So wie die Eltern von Mara, die sich an eine Sozialarbeiterin wandten. Mara ging wöchentlich zum Gespräch und einmal traf sich die ganze Familie – Mara hat eine ältere Schwester – bei der Sozialarbeiterin.
Zu hohe Anforderungen an sich selbst
Selbstverletzungen gelten nicht als eigenständige Krankheit, sondern sind Symptome einer zugrunde liegenden psychischen Störung. Am häufigsten ritzen die Betroffenen ihre Haut mit Scheren, Messern oder anderen scharfen und spitzen Gegenständen blutig, meist an Armen, Beinen, Brust und Bauch. Es kommt aber auch vor, dass sich jemand mit Zigaretten Brandwunden zufügt.
Auch das Geschlechterverhältnis habe sich in den letzten Jahren verändert, sagt Resch. Seien es früher acht bis neun Mal so viele Mädchen wie Jungen gewesen, die sich selbst verletzten, so habe dieses Verhalten inzwischen bei den Jungen deutlich zugenommen. Heute betreffe es nur noch zwei bis drei Mal so viele Mädchen. »Jungen können schon mal ihre Faust so stark gegen die Wand schlagen, dass die Handknochen brechen«, beschreibt Resch Einzelfälle.
Fügen sich Kinder oder Jugendliche bewusst Wunden zu, so sei das immer ein Signal nach außen, ein Hilfeschrei, sagt der Heidelberger Psychiater. Die Betroffenen zeigten damit, wie schlecht es ihnen gehe.
Bei Mara kam durch die Gespräche beispielsweise heraus, dass sie sehr hohe Anforderungen an sich selbst gestellt hatte, an ihre Schulleistungen, ihr Aussehen, ihre Freundschaften. Sie konnte diese Ansprüche nicht erfüllen und entwickelte eine »Wut auf sich selbst«, wie ihre Mutter berichtete.
Überreaktion im Gehirn
Besonders gefährdet sind nach Auskunft von Franz Resch Jugendliche mit akuten Problemen oder psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Ess-, Zwangs- oder Angststörungen oder auch mit mangelndem Selbstbewusstsein bis zum Selbsthass. Betroffene könnten ihre Gefühle oft nicht gut ausdrücken oder sie spürten sich selbst nicht.
Aus der neurobiologischen Forschung wisse man, dass emotionale Reize bei den Betroffenen in bestimmten Gehirnregionen eine Überreaktion auslösen, sagt Professor Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien. In dieser auch Mandelkern oder fachsprachlich Amygdala genannten Region werden emotionale Reize verarbeitet.
Die Wunden schaffen kurz Erleichterung
»Kinder, die sich bereits vor dem zwölften Lebensjahr selbst verletzen, haben ein größeres Risiko, später eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zu entwickeln«, sagt Plener. Bei der Krankheit ist das Selbstbild der Betroffenen gestört. Sie haben häufig starke emotionale Schwankungen und neigen oft dazu, zwar intensive aber nicht dauerhafte Beziehungen einzugehen.
Selbstverletzungen dienen dazu, sich Erleichterung von negativen Gefühlen oder Spannungen zu verschaffen. »Wenn die Mädchen oder Jungen sehen, wie ihr Blut fließt, ist das für sie oft auch ein Zeichen, dass sie noch leben«, sagt der Heidelberger Psychiater Resch. Häufig hätten die Betroffenen zudem Suizidgedanken. »Dabei können die gezielt zugefügten Wunden bei ihnen den Impuls mildern, sich umbringen zu wollen.«
Das Ritzen oder Verbrennen bringe aber nur kurzfristig Linderung, fügt Prof. Plener an. »Nach einer halben oder einer Stunde stellen sich die negativen Gefühle wieder ein, hinzu kommen Schamgefühle.« Ein Teufelskreis, dem nur schwer zu entrinnen sei.
Die negativen Gefühle verschwinden nicht
Zwar hören die meisten Kinder und Jugendlichen mit dem Verhalten spätestens als junge Erwachsene auf, sagt Plener. »Die negativen Gefühle sind dann aber nicht weg.« Die Gefahr sei groß, dass die Betroffenen stattdessen zu Alkohol oder anderen Drogen griffen.
Wichtig ist deshalb wirksame Unterstützung (siehe Kasten). In leichteren Fällen reiche zu Beginn oft schon ein Gespräch, sagt Franz Resch. Dabei lernen die Hilfesuchenden auch Alternativen kennen, wie sie den Impuls, sich selbst zu schädigen, in andere starke, aber ungefährliche Reize umlenken können: indem sie sich zum Beispiel Eiswürfel auf die Haut legen, in eine Chilischote beißen oder extrascharfe Hustenbonbons lutschen.
Ziel sei es, die emotionale Kompetenz der Betroffenen zu fördern und verständnisvolle Hilfe anzubieten. »Wunderheilungen sind aber nicht zu erwarten«, sagt Resch. Die Betroffenen benötigten dauerhaft eine gute Betreuung und verlässliche Bezugspersonen.
Bei Mara halfen die Gespräche mit der Sozialarbeiterin, eine weiterführende Therapie war nicht nötig. Inzwischen ist sie 17. Sie habe zwei kleine Rückfälle gehabt und sich leicht selbst verletzt, als sie Schwierigkeiten mit dem Freund hatte, gibt die Mutter an. Die Jugendliche sei nun aber viel gefestigter und reifer geworden.