chronisch krank: Wie die Pflege zu Hause gelingen kann

Der Gesundheits- und Pflegewissenschaftler Professor Michael Ewers erläutert, wie sich die häusliche Intensivpflege verbessern ließe, was das neue Pflegegesetz dafür tut – und welche Lücken es zumindest bislang offenlässt.

Herr Professor Ewers, über die außerklinische Intensivpflege wurde zuletzt viel diskutiert. Was konkret müsste verbessert werden?

Diese Form der Intensivversorgung im Zuhause des Patienten stellt hohe Anforderungen an alle Beteiligten. Verbesserungsbedürftig ist beispielsweise die Zusammenarbeit der Ärzte, Pflegedienste, Therapeuten, Hilfsmittellieferanten und auch der Krankenhäuser. Meist arbeiten sie nebeneinander, obwohl eigentlich Teamarbeit und Abstimmung untereinander erforderlich wäre. Hinzu kommt, dass kaum jemand in seiner Ausbildung auf die Besonderheiten der häuslichen Intensivpflege vorbereitet wurde. Die Weiterbildung der an der Versorgung beteiligten Personen ist also sehr wichtig.

Wie kann man den Patienten individuell am besten gerecht werden?

Wie bereits die Frage andeutet: Es geht um eine individuelle, auf den konkreten Patienten und sein persönliches Umfeld abgestimmte Pflege und Versorgung. Darin besteht sicher die größte Herausforderung. Eine gute Pflege kann nur dann gelingen, wenn sich die Beteiligten viel Zeit nehmen, um herauszufinden, was dem Patienten und vielleicht auch seinen Angehörigen wichtig ist und welche Erwartungen in die Pflege zu Hause gesetzt werden. Vielleicht wird sich nicht alles davon umsetzen lassen, aber versuchen sollte man es auf jeden Fall.

Werden solche Aspekte durch das geplante Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz, kurz IPReG, erleichtert?

Es besteht zumindest die Erwartung, dass sich durch den mit dem Gesetz geschaffenen Rahmen die Möglichkeiten der Rehabilitation und zur Entwöhnung von der Dauerbeatmung verbessern. Die Potentiale der Patienten, um ihren Gesundheitszustand wieder zu verbessern, sollten in jedem Fall ausgeschöpft werden. Ob die Intensivpflege durch das Gesetz gestärkt wird, muss sich aber noch zeigen. Zwar sollen Qualitätsstandards definiert werden – ob dabei aber pflegewissenschaftliche Expertise hinzugezogen wird, ist offen. Ich persönlich habe den Eindruck, als würde der Gesetzgeber der häuslichen Intensivversorgung, bei der Pflegefachpersonen eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle übernehmen, noch immer misstrauen. Dabei haben andere Länder längst vorgemacht, dass selbst anspruchsvolle Leistungen der Krankenversorgung in hoher Qualität im Zuhause der Patienten angeboten werden können. Dafür müssen aber zunächst die richtigen Voraussetzungen geschaffen werden.

Welche sind das? Oder anders gefragt: Welche Lücken hat das Gesetz bisher nicht geschlossen?

Ich hätte mir unter anderem gewünscht, dass man im Zuge der Gesetzesänderung konkretere Vorgaben für die Qualifikation der Pflegefachpersonen gemacht hätte. In vielen europäischen Ländern wird Menschen, die einen Pflegeberuf erlernen wollen, eine Hochschulausbildung angeboten. In Schweden zum Beispiel muss jede Pflegefachperson einen Bachelor-Studiengang absolviert haben. Viele machen im Anschluss sogar noch ein Masterstudium, um sich in einem bestimmten Bereich der Pflege zu spezialisieren – etwa für die Intensivversorgung. Auf diese Weise lässt sich nachweislich nicht nur die Qualität der Pflege verbessern, sondern es können auch mehr junge Menschen für Pflegeberufe gewonnen werden. Die Möglichkeit einer Hochschulausbildung würde den Beruf für viele attraktiver machen.

Aber würde die Pflege dadurch nicht auch deutlich kostspieliger werden?

Nicht unbedingt. Denn natürlich wären wir weiterhin auch auf weniger gut ausgebildete Pflegekräfte angewiesen – schon allein deshalb, weil sich ansonsten gar nicht genug Pflegepersonal finden lassen würde. Ein guter Mix aus Pflegenden mit unterschiedlichen Qualifikationen wäre insofern wichtig. Auch in einem anderen Punkt würde ich daher gerne dem Vorbild vieler Länder Europas folgen: Dort finden sich häufig teambasierte Ansätze, bei denen Pflegefachpersonen, Ärzte, Therapeuten und eventuell auch Sozialarbeiter Hand in Hand zusammenarbeiten. In Deutschland ist das bislang nur in der Palliativversorgung der Fall. Diese Situation finde ich sehr bedauerlich, da ich der Ansicht bin, dass man den wachsenden Anforderungen gerade in der häuslichen Pflege, wo immer mehr Menschen eine Versorgung rund um die Uhr benötigen, in einem möglichst festen Team viel besser gerecht werden könnte.

Künftig soll in letzter Instanz die Krankenkasse beziehungsweise deren Medizinischer Dienst, der MdK, darüber entscheiden, ob die außerklinische Intensivpflege im eigenen Heim stattfinden darf oder nicht. Sollte das Gesetzesvorhaben in diesem Punkt nachgebessert werden?

Der MdK gibt aufgrund seiner Begutachtung eine Empfehlung ab, auf deren Grundlage die Krankenkasse dann eine Entscheidung trifft – das ist auch bisher schon das übliche Verfahren. Bei dieser Entscheidung sind aber der Patientenwille und seine individuellen Lebensumstände und Präferenzen angemessen zu berücksichtigen. Es soll in jedem Fall eine auf den individuellen Bedarf abgestimmte Versorgung erfolgen, wobei natürlich auch eine Rolle spielt, ob und unter welchen Umständen eine qualifizierte häusliche Versorgung überhaupt möglich ist. Gerade dieser Punkt, bei dem es um das Wahlrecht des Patienten geht, ist ja bereits nachgebessert worden.

Berücksichtigt das neue Gesetz die Situation von pflegenden Angehörigen in ausreichendem Maße?

Meiner Ansicht nach nicht. Pflegende Angehörige sind oft großen physischen, psychischen und auch zeitlichen Belastungen ausgesetzt. Mein Wunsch wäre gewesen, sie dafür künftig besser zu entschädigen – sowohl durch berufliche Freistellungsmöglichkeiten als auch durch bessere Rentenleistungen. Doch zu all dem findet sich in dem Gesetzesentwurf nichts.

Sie sind der Ansicht, dass gerade die häusliche Intensivpflege weiter ausgebaut werden sollte. Warum?

Was für die Therapie gilt, sollte auch in der Pflege Anwendung finden. In beiden Fällen existiert der Leitsatz: Die ambulante Behandlung ist der stationären – wenn es die Gegebenheiten zulassen – vorzuziehen. Viele Therapien sind im häuslichen Setting ebenso gut durchführbar wie in einer Klinik oder einem Heim. Und Krankenhäuser sind nun einmal, um es etwas überspitzt zu formulieren, ein gefährlicher Ort. Das Infektionsrisiko dort ist größer, gerade im Hinblick auf multiresistente Krankheitserreger, und auch die Gefahr der Überversorgung ist höher. Darüber hinaus lebt es sich im eigenen Haushalt deutlich autonomer. Hier kann der Patient selbst darüber bestimmen, was er zum Beispiel essen möchte und wann. Für die Lebensqualität sind solche scheinbar banalen Dinge oft von entscheidender Bedeutung.

Welche möglichen Risiken sehen Sie speziell im Bereich der ambulant-häuslichen Intensivpflege?

Neben einer drohenden Überlastung der Angehörigen ist vor allem die mangelnde Qualitätssicherung gerade in privaten Räumen problematisch. Es findet ja quasi eine Versorgung hinter verschlossenen Türen statt. Schwarze Schafe unter den Pflegenden und Ärzten sind daher schwieriger auszumachen. Durch das neue Gesetz wird aber künftig auch im häuslichen Bereich mehr Qualitätskontrolle durch die Medizinischen Dienste möglich sein. Darüber hinaus würde ich dafür plädieren, einen Kriterienkatalog speziell für die häusliche Intensivpflege zu entwickeln, anhand dessen jeder die Qualität eines Intensivpflegers oder eines entsprechenden Pflegedienstes erkennen und beurteilen kann.

Welche sind die gravierendsten Auswirkungen der Corona-Krise auf die ambulant-häusliche Intensivpflege und wie lassen sich diese für die Betroffenen abmildern?

Durch den Ausfall ausländischer Pflegekräfte müssen viele Menschen die Pflege ihrer zu Hause lebenden Angehörigen neu organisieren. Das ist natürlich nicht immer ganz einfach. Hinzu kommt, dass selbst die Angehörigen eigentlich auf Abstand zum Gepflegten gehen und strikte Hygieneregeln einhalten sollen. Vielfach ist das gar nicht möglich. Und was die verstärkte Isolation für die mentale Gesundheit der Patienten bedeutet, kann man derzeit allenfalls erahnen. Darüber hinaus sehe ich das Problem, dass viele Ärzte die Pfleger derzeit nur noch per Smartphone anweisen – was mit Informationsdefiziten und einem zusätzlichen Sicherheitsrisiko für die Patienten einhergeht.

Angesichts der drohenden Vielzahl schwer erkrankter Covid-19-Patienten verbreitete sich unter Pflegebedürftigen, die auf Beatmungsgeräte angewiesen sind, zuletzt eine weitere Sorge: Sie befürchten, dass man ihnen zumindest ihre Ersatzgeräte wegnehmen könnte, um sie den schwer am Coronavirus erkrankten Menschen zur Verfügung zu stellen.

Ja, diese Sorge gibt es in der Tat. Ich persönlich halte ein solches Szenario allerdings für äußerst unrealistisch, weil damit zahlreiche technische und hygienische Probleme verbunden wären. Aber die Ängste der Patienten und ihrer Angehörigen müssen natürlich ernst genommen werden. Nur so lässt sich das Gefühl der Sicherheit in der häuslichen Intensivversorgung stärken.