Multiple Sklerose: Nur wenige MS-Medikamente erhöhen das Corona-Risiko
Die Berliner Neurologin Professor Judith Haas erläutert, welche besonderen Regeln für MS-Patienten in Zeiten von Corona gelten. Die meisten Erkrankten kann Haas beruhigen: Für sie ändert sich kaum mehr als für gesunde Menschen.
Frau Professor Haas, viele MS-Patienten machen sich aufgrund der Corona-Krise derzeit besonders große Sorgen um ihre Gesundheit. Wie berechtigt sind diese Ängste: Haben Menschen mit MS grundsätzlich ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit Corona-Viren oder einen besonders schweren Verlauf der Erkrankung Covid-19?
Ich denke, ich kann den Menschen diese Ängste ein gutes Stück weit nehmen. Die bisherigen Zahlen, die uns vor allem aus Italien und Spanien vorliegen, deuten nicht daraufhin, dass sich unter den Infizierten oder schwer Erkrankten mehr MS-Patienten befinden als in der Allgemeinbevölkerung. Auch in Deutschland gibt es bisher keine Hinweise für einen solchen Zusammenhang. Womöglich ist sogar das Gegenteil der Fall: Meine italienischen Kollegen halten es aufgrund ihrer Beobachtungen für denkbar, dass MS-Patienten sogar seltener als andere wegen einer Covid-19-Infektion im Krankenhaus behandelt werden müssen.
Aber erhöhen nicht zumindest manche der MS-Medikamente das Risiko für eine Infektion oder einen schweren Verlauf der Corona-Erkrankung?
Diesbezüglich gibt es tatsächlich deutliche Unterschiede zwischen den Medikamenten. Zunächst einmal können wir nahezu sicher sein, dass die schon lange verfügbaren Injektionstherapien mit Beta-Interferonen oder Glatirameracetat das Corona-Risiko nicht erhöhen. Das Gleiche gilt sehr wahrscheinlich für den verlaufsmodifizierenden Antikörper-Wirkstoff Natalizumab. All diese Medikamente können und sollten daher uneingeschränkt weitergenommen werden – insbesondere auch deshalb, da ein Absetzen der Arzneien mit einem hohen Risiko verbunden wäre, dass die MS stark wiederaufflammt.
Welches Risiko bergen MS-Medikamente, die als Tablette eingenommen werden?
Von den Wirkstoffen Dimethylfumarat und Teriflunomid wissen wir, dass sie das generelle Infektionsrisiko, also vermutlich auch das für Corona-Viren, bei normalen Lymphozytenzahlen nicht erhöhen. Ist der Wert allerdings niedriger als tausend Lymphozyten pro Mikroliter Blut, sollte momentan eine Reduzierung der Dosis oder eine kurze Pause der Medikamenteneinnahme in Erwägung gezogen werden – natürlich immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt.
Von den Wirkstoffen Fingolimod, Siponimod und dem zur Zulassung empfohlenen Ozanimod ist bekannt, dass sie das Risiko für Atemwegsinfektionen erhöhen. Sollten derartige Therapien besser unterbrochen werden?
Nein, davon raten wir ab. Erst einmal wissen wir noch gar nicht mit Sicherheit, ob diese Medikamente auch das Risiko für eine Corona-Infektion erhöhen, wenngleich ein solcher Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus aber, und das ist das Entscheidende, ist das Risiko, das mit einem Aussetzen der Therapie verbunden wäre, deutlich größer einzuschätzen als das, an Covid-19 zu erkranken. Wenn es zu einer Aktivierung der MS kommt, könnten bleibende Behinderungen die Folge sein. Nur wenn ein Patient nachweislich mit dem Corona-Virus infiziert ist, kann man über eine kurze Unterbrechung der Therapie nachdenken. Bisher gibt es jedoch auch keine Hinweise dafür, dass eine Corona-Erkrankung aufgrund dieser Wirkstoffe schwerer verlaufen würde als ohne sie. Allerdings empfehlen wir, eine bisher nur geplante Behandlung mit einem der Medikamente nicht gerade jetzt zu beginnen, sondern vielleicht erst in einigen Wochen, wenn die Erkrankungswelle wieder deutlich abgeflacht ist.
Wie werden Intervalltherapien mit den Wirkstoffen Ocrelizumab, Rituximab, Cladribin, Alemtuzumab oder Mitoxantron am besten fortgeführt?
Bei diesen Medikamenten, die ja alle sehr stark in das Immunsystem eingreifen, sollte man überlegen, ob man die halbjährliche oder jährliche Gabe fortführt oder ob man die Intervalle angesichts der Corona-Krise verlängern kann. Insbesondere in den ersten vier Wochen nach der Verabreichung ist das allgemeine Infektionsrisiko ohnehin sehr stark erhöht, weswegen sich die Patienten in dieser Zeit generell besonders gut vor Krankheitserregern schützen müssen. Bei einer sehr aktiven MS würde ich den Patienten trotzdem dazu raten, die Therapie in den gewohnten Abständen fortzuführen und in der kritischen ersten Zeit möglichst zu Hause zu bleiben und den Kontakt zu den Mitmenschen auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.
Sollten Schubtherapien mit Cortison derzeit vorgenommen werden? Wenn ja, was bedeutet das für die Patienten im Hinblick auf Corona?
Bei einem leichten Schub, der nur mit geringen Symptomen einhergeht, würde ich derzeit eher davon abraten. Bei stärkeren Schüben kann Cortison eingesetzt werden. Wegen der höheren Infektanfälligkeit sollten berufstätige Patienten aber zumindest in den ersten zwei Wochen nach Möglichkeit zu Hause bleiben. Eine regelmäßig in Intervallen erfolgende Cortison-Einnahme ist als Schubtherapie derzeit nicht empfehlenswert.
Gibt es Schutzmaßnahmen, die für MS-Patienten momentan ganz besonders gelten?
Eigentlich sind es die gleichen, die auch für die restliche Bevölkerung vorgesehen sind. Ich würde allerdings jedem MS-Patienten, der nach draußen geht, in diesen Wochen empfehlen, eine Schutzmaske zu tragen: allein um anderen Menschen zu signalisieren, dass sie doch bitte Abstand halten mögen. Und insbesondere wenn sich die Patienten einer risikobehafteten Therapie unterziehen, sollten sie – unabhängig von ihrem Alter übrigens – Außenkontakte wirklich so gut es geht vermeiden. Trotzdem ist es auch für diese Patienten sehr wichtig, möglichst oft an die frische Luft zu gehen, um so für eine gute Lungenventilation zu sorgen. Das gilt ganz besonders für Rollstuhlfahrer und andere Patienten mit starken körperlichen Einschränkungen. Auch die Räume, die sie bewohnen, sollten stets gut gelüftet sein.
Wie schützen sich Patienten, die auf die Hilfe anderer Familienmitglieder oder Pflegedienste angewiesen sind, am besten?
Diese Patienten sind derzeit leider besonders gefährdet. Es gibt einfach keine ausreichenden Mengen an Schutzkleidung für die Pflegenden, die ja in der Regel deutlich mehr Außenkontakte als die Patienten haben. Oft sind Patienten, die gepflegt werden müssen, bettlägerig oder vollständig an den Rollstuhl gebunden. Sie haben deswegen eine schlechtere Lungenfunktion und somit – ganz unabhängig von der MS – ein hohes Risiko, bei einer Infektion mit Corona-Viren schwer zu erkranken. Auf all diese Patienten müssen wir daher besonders gut achten.