Schlaganfall: Nach den Sternen greifen

Jährlich erleiden rund 270.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Oft bleiben Lähmungen zurück. Mithilfe der virtuellen Realität wollen Therapeuten jetzt das Gehirn stimulieren und ihre Patienten wieder mobiler machen.

Wer möchte nicht gern auf dem Ring des Planeten Saturn stehen und mit den Händen die Kometen fangen, die durch das Weltall schwirren? Ein verrückter Gedanke, aber viele Reha-Patienten der St. Mauritius Therapieklinik in Meerbusch kennen dieses Erlebnis aus eigener Erfahrung. Dafür starten sie ein Programm auf dem Computer und setzen eine undurchsichtige Brille mit schwarzen Gläsern auf. Vor ihren Augen eröffnet sich eine virtuelle Realität (VR) – die Reise in den Weltraum kann beginnen. Plötzlich sind die Sterne zum Greifen nah. Auch wenn sich die Hände in Wirklichkeit nur mühsam bewegen lassen: In der virtuellen Welt können sie Kometen fangen. Das motiviert viele Patienten trotz körperlicher Einschränkungen, ihre Hände und Arme zu trainieren. Wir beobachten jeden Tag, wie sehr sich die Anstrengungsbereitschaft der Patienten durch den Einsatz der VR-Brille steigern lässt, berichtet Professor Tobias Schmidt-Wilcke. Der Chefarzt der Neurologischen Klinik setzt seit einem Jahr auf die Hilfe der VR-Technologie und macht sich dabei den Spieltrieb zunutze. Die ersten Ergebnisse seien in vielerlei Hinsicht ermutigend: Der Kometenfang wecke den sportlichen Ehrgeiz, der durch die Krankheit oft verloren gegangen sei. Zudem steigt bei vielen Patienten das Selbstvertrauen, weil sie auch ungewöhnliche Aufgaben schaffen, sagt der Neurologe. Die Patienten trainierten häufiger und regelmäßiger, was ihre Bewegungsfähigkeit nachhaltig verbessere. Schmidt-Wilcke: In der Rehabilitation kennen wir seit Jahren den klaren Zusammenhang zwischen Intensität des Trainings und Erfolg einer Therapie. Deshalb sei jede gute Idee zur Steigerung der Motivation willkommen.

Patienten zeigen sich offen

VR-Systeme halten in immer mehr Kliniken und Behandlungszentren Einzug in die neurologische Rehabilitation. Wer nach einem Schlaganfall, einer Schädelverletzung oder einer Nervenschädigung Bewegung von Grund auf neu lernen muss, hat also gute Chancen auf ein Training in der virtuellen Realität. Die meisten Patienten sind sehr offen für diesen Therapieansatz, auch wenn sie VR-Brillen vorher gar nicht kannten, erzählt Schmidt-Wilcke. Ängstliche Reaktionen erlebt er nur selten. Acht von zehn Patienten seien begeistert von den Möglichkeiten der neuen Technologie, sagt er. Allerdings eignet sich die VR-Therapie nicht für alle. Die Patienten müssen mindestens 30 Minuten aufmerksam einer Aufgabe folgen können. Zudem sollten sie genau verstehen, was der Einsatz der VR-Systeme bewirkt. Wir setzen den Menschen eine Brille auf und danach sehen sie sich in einer anderen Umgebung – das ist für viele Patienten nicht einfach, berichtet Schmidt-Wilcke. Die Therapeuten der St. Mauritius Therapieklinik können aus viele Beispielen auswählen, welches VR-Szenario für den Einzelfall angemessen ist. Das wichtigste Kriterium ist dabei die Rest-Beweglichkeit der Arme, Hände und der Finger. Die Technik lässt sich flexibel an die Möglichkeiten anpassen, die der Patient in dieser Phase der Therapie besitzt, sagt der Chefarzt. Auch beim Abenteuer im Weltraum können viele Parameter individuell eingestellt werden. Wie weit müssen Arme und Hände geführt werden, um den Kometen zu fangen? Wie schnell dürfen die Sterne fliegen, damit der Patient ein Erfolgserlebnis hat?

Kooperation mit Entwicklern

Um technische Probleme schnell meistern zu können, hat die Therapieklinik eine ungewöhnliche Kooperation geschlossen Das VR-System stammt von dem jungen Startup CUREosity aus Düsseldorf, nur wenige Kilometer von Meerbusch entfernt. Das Unternehmen stellt uns die Technologie zur Verfügung und kümmert sich um die reibungslose Funktion. Wir liefern im Gegenzug Erfahrungen aus dem klinischen Alltag, mit deren Hilfe sich die Systeme weiter verbessern lassen, sagt Tobias Schmidt-Wilcke. Die Therapeuten der St. Mauritius Klinik konzentrieren sich in der Einführungsphase der VR-Systeme auf die Rehabilitation der oberen Extremitäten bei Halbseitenlähmungen. Das reduziert den technischen Aufwand. Die Therapeuten benötigen nur die VR-Brille und einen Laptop. Damit kann die Therapie im Rollstuhl im Zimmer und sogar im Krankenbett stattfinden. Kameras und Sensoren außen auf der Brille zeichnen die Bewegungen der Arme, Hände und Finger auf. Diese Daten werden direkt in der Brille in das Bild eingespeist, das der Patient vor seinen Augen sieht. So entsteht der Eindruck, er könne die Sterne fangen.

Aufgaben werden schwerer

Der Griff nach den Sternen gehört zum Trainingsprogramm der Fortgeschrittenen. Wir beginnen meistens mit Übungen auf einem virtuellen Tisch, erzählt Schmidt-Wilcke. Bei den ersten Aufgaben in der virtuellen Realität tauchen auf der Tischplatte Figuren, Kreise und Dreiecke auf, deren Konturen ein Patient mit den Fingern nachfahren soll. Das VR-System gibt Rückmeldung, wie präzise er den Strichen gefolgt ist und wie lange er benötigt hat. Wenn die einfachen Aufgaben gut gelöst werden, legt der Therapeut als nächstes vielleicht dreidimensionale Objekte auf den virtuellen Tisch. Wie bei einem Computerspiel bedeutet auch in der VR-Therapie das nächste Level eine geringfügig schwerere Aufgabe.

Tobias Schmidt-Wilcke hat sich nicht nur wegen der höheren Motivation der Patienten für die neue Technologie entschieden. Wir glauben, dass die VR-Therapie auch einen geeigneten Ansatz liefert, um die Neuroplastizität des Gehirns anzuregen, sagt er. Das menschliche Gehirn ist nämlich in einem hohen Maße formbar und anpassungsfähig – neuroplastisch, wie Neurologen sagen.

Erfolg am Klettersteig

Wissenschaftler wissen aus vielen Untersuchungen, dass Erfahrungen und Lernprozesse die Reparaturmechanismen des zentralen Nervensystems unterstützen. Die Erlebnisse in der virtuellen Welt können das Gehirn also quasi austricksen. So kann ein bewegungsbeschränkter Arm bei einer Hirnfunktionsstörung besser in das mentale Körperschema integriert werden. Oder vereinfacht gesagt: Das Gehirn bezieht die Extremitäten wieder in die Bewegungsabläufe ein. Das ist wichtig, denn die meisten Bewegungen des Menschen beginnen mit einem Gedanken im Kopf.

Wir können mit der VR-Technik Situationen gestalten, die wir in der normalen Physiotherapie nicht schaffen können, sagt Tobias Schmidt-Wilcke. Im VR-System von CUREosity gebe es zum Beispiel eine Übung, bei der die Patienten eine Wand hochklettern können, wenn sie es schaffen, den Arm aus der Schulter bis über den Kopf zu heben. Diese und andere Herausforderungen der virtuellen Welt sind stark motivierend, und wir glauben, dass wir mit diesen Anreizen auch die Neuroplastizität für Reparaturprozesse im Gehirn anregen können, sagt Schmidt-Wilcke. Die Ergebnisse der VR-Therapie an der St. Mauritius-Klinik werden in einer wissenschaftlichen Studie ausgewertet. Die Erfolge sollen nicht allein der Klinik zugutekommen. Die VR-Therapie kann nach einer gewissen Eingewöhnung auch im ambulanten Bereich und sogar zu Hause eingesetzt werden, sagt der Chefarzt.