Gendermedizin: Frauen sind anders. Männer auch.

Viele Krankheiten verlaufen bei Frauen anders als bei Männern. In der Gendermedizin erforschen Wissenschaftler die Unterschiede, um das Krankheitsbild insgesamt besser zu verstehen. Von den Ergebnissen profitieren beide Geschlechter.

Depressionen machen sich bei Frauen häufig in Form von Niedergeschlagenheit, Essstörungen, Freudlosigkeit oder Antriebsmangel bemerkbar. Depressive Männer hingegen fallen eher durch Reizbarkeit, Aggressionen oder Suchtverhalten mit Zigaretten und Alkohol auf. Zudem berichten mehr Frauen als Männer über langanhaltende oder wiederkehrende Depressionen, die ihre Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Auch die Häufigkeit der Erkrankung ist abhängig vom Geschlecht: Etwa jede vierte Frau, aber nur jeder achte Mann, ist im Laufe des Lebens von einer Depression betroffen.

Dass Frauen anders krank werden als Männer, zeigt sich auch bei der Multiplen Sklerose (MS). An dem neurologischen Leiden erkranken Frauen drei- bis viermal so oft wie Männer und bei ihnen nimmt es auch häufig einen anderen Verlauf. So beginnt die MS bei Frauen öfter in jüngeren Lebensjahren. 85 Prozent der MS-Patienten und darunter vor allem Frauen haben eine Krankheitsvariante, die mit einem akuten Schub beginnt und sich danach fast vollständig zurückbildet, bevor der nächste Schub auftritt. Bei Männern hingegen verläuft die Nervenkrankheit vermehrt nicht in Schüben, sondern schreitet kontinuierlich voran. Auch Epilepsie und Schlaganfälle äußern sich bei Frauen anders als bei Männern.

Geschlechterunterschiede bei Krankheiten gibt es häufig, aber leider werden sie in der Medizin noch immer unzureichend berücksichtigt, sagt Vera Regitz-Zagrosek. Die Kardiologin ist Deutschlands einzige Professorin für frauenspezifische Gesundheitsforschung. Im Jahr 2007 gründete sie das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) an der Berliner Charité. Das GiM, sagt Regitz-Zagrosek, nehme sowohl die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den Blick als auch den Einfluss, den die geschlechterspezifische Prägung in Familie, Schule und Gesellschaft auf die Entstehung von Krankheiten hat.

Unterschiede ernst nehmen

Die Wissenschaftlerin kämpft für eine Medizin, die die Unterschiede zwischen Frauen und Männern ernst nimmt und entsprechende Erkenntnisse in der Praxis umsetzt. Die Medizin müsse Frauen und Männer in ihren Eigenheiten verstehen, sie spezifisch ansprechen und unterschiedlich behandeln, sagt die Professorin. Gendermedizin sei vom Ursprung her aber nicht feministisch, sondern auf beide Geschlechter ausgerichtet. Defizite seien hier wie dort zu beobachten. Bei Männern, die beispielsweise an einer Erkrankung wie Osteoporose leiden, die fast ausschließlich Frauen betrifft, fehlen oft geschlechterspezifische Erfahrungen für die Therapie. Meistens ist es aber andersherum: Der Nachholbedarf an Wissen über Frauengesundheit ist deutlich größer als zur Gesundheit von Männern, sagt Vera Regitz-Zagrosek.

Für gute Ärzte ist es heute selbstverständlich, das Geschlecht ihrer Patienten bei Diagnose und Therapie zu berücksichtigen. Das war nicht immer so. Die klassische Medizin hat sich lange am männlichen Patienten orientiert. Noch in den 1990er-Jahren wussten selbst viele Ärztinnen nicht, dass sich ein Herzinfarkt bei Frauen oft anders zeigt als bei Männern, wodurch wertvolle Zeit für die Behandlung verschenkt wurde, berichtet Vera Regitz-Zagrosek aus ihrem Fachgebiet.

Die Nationale Akademie der USA für Medizin stellte 1994 fest, dass zwei Drittel aller Krankheiten, die Männer und Frauen gleichermaßen betreffen, bis dahin ausschließlich an Männern untersucht worden waren. Tierversuche erfolgten überwiegend an männlichen Versuchstieren, weil die Forscher den Zyklus der weiblichen Tiere als Störfaktor bei der Auswertung der Studien ansahen. In klinischen Studien am Menschen waren Männer in den Testgruppen häufig deutlich in der Überzahl.

Neutrum mit männlicher Note

Als wir mit geschlechtssensibler Medizin begonnen haben, hat kaum jemand richtig verstanden, warum wir das tun, erinnert sich Vera Regitz-Zagrosek. Aber ich hatte einen Vertrauensvorschuss, weil ich als Forscherin anerkannt war. In der Medizin sei es lange üblich gewesen, den Menschen als Neutrum mit männlichen Zügen darzustellen.

Geschlechterunterschiede hat man früher nur im Bereich der Sexualorgane gesehen und nicht darüber nachgedacht, dass es sie auch im Bereich von Herz, Leber und Niere gibt, sagt die Professorin. Inzwischen sei das Thema aber in der Ärzteschaft und in den Universitäten angekommen. Gerade bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten finden wir große Akzeptanz, weil sie das Thema in der Praxis im täglichen Kontakt mit ihren Patientinnen erleben.

Auch in der Arzneimittelprüfung hat sich Situation verbessert. So verlangen die Richtlinien des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seit 2011 ausdrücklich den Einschluss beider Geschlechter in klinische Studien, damit geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Wirksamkeit oder Unbedenklichkeit des geprüften Arzneimittels angemessen bewertet werden können.

Für ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt, Ärztin und Patientin oder Patient muss zudem die Kommunikation stimmen. Auch dabei spielt das Geschlecht eine Rolle. Frauen fällt es oft nicht leicht, für sich selbst einzutreten, sagt die Kardiologin. Es sei typisch, dass Patientinnen den Schweregrad ihrer eigenen Erkrankung geringer einschätzten als er sei. Frauen suchten eher den Hausarzt auf als die Notaufnahme eines Krankenhauses. Zudem versuchten sie häufig, trotz Erkrankung den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Bei Frauen ist das eigene Kranksein stärker von den Bedürfnissen der Familie und des Umfelds geprägt als von Selbstfürsorge, sagt Regitz-Zagrosek. Auf diese Besonderheiten müsse das Medizinsystem stärker reagieren.

Die Macht der Sexualhormone

Frauen sind anders als Männer – das klingt nach einer Binsenweisheit. Aber die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind viel größer als die meisten Menschen wissen. Und sie gehen weit über das Offensichtliche hinaus. So verändert sich auch der Stoffwechsel in den Zellen durch die jeweils vorherrschenden Sexualhormone. Bei Männern beeinflusst das Testosteron beispielsweise nicht nur Wachstum und Aufbau von Muskelmasse, sondern ebenso die Vermehrung roter Blutkörperchen. Das Östrogen der Frauen hält das Gleichgewicht einer Zelle auch unter Stressbedingungen aufrecht. Es begünstigt die Erneuerungsfähigkeit des Gehirns und fördert abwehrbedingte Entzündungsprozesse.

Ein weiterer Grund für den unterschiedlichen Stoffwechsel liegt in den Genen. Männer tragen in ihrem Erbgut ein X- und ein Y-Chromosom, Frauen aber zwei X-Chromosomen: eines vom Vater und eines von der Mutter. Rechnerisch macht dieser Unterschied nur 1,5 Prozent der gesamten DNA aus, biologisch jedoch bedeutet er einen Vorteil für Frauen. Denn das Y-Chromosom des Mannes hat während der Evolution viele Fertigkeiten eingebüßt. Die verbliebenen etwa 100 Gene steuern fast ausschließlich die Entwicklung der Geschlechtsorgane und den Sexualtrieb. Das X-Chromosom umfasst hingegen mehr als 1.500 Gene, die unter anderem Herz, Immunsystem und Gehirn beeinflussen.

Während der Entwicklung des weiblichen Embryos wird in den Zellen standardmäßig nur die genetische Information aus einem der beiden X-Chromosomen verwendet und die des anderen Chromosoms abgeschaltet. Dieser Deaktivierung eines Chromosoms entkommen jedoch etwa 15 Prozent der Gene – sie bleiben auch nach der Geburt aktiv. Deshalb sind es bei Frauen nicht selten zwei Gene, die ein Protein herstellen, was im Vergleich zu Männern zur doppelten Proteinmenge führen kann.

Mut zum Nachfragen

Aufgrund solcher biologischen Unterschiede können Medikamente bei Männern und Frauen anders wirken. Ihre Dosis sollte daher auch mit Blick auf das jeweilige Geschlecht bestimmt werden. Einige Medikamente wirken bei Frauen deutlich schlechter als bei Männern, außerdem treten unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Frauen leider häufiger auf, sagt Vera Regitz-Zagrosek. Die Berliner Professorin ermutigt Frauen ausdrücklich, Ärztinnen und Ärzte nach frauenspezifischen Erfahrungen mit Medikamenten und nach Empfehlungen für eine angepasste Dosierung zu befragen.

Die Genderforschung ist überzeugt, dass der Vergleich von Männern und Frauen auch neue Therapieansätze liefern kann. Viele Autoimmunerkrankungen wie beispielsweise MS, rheumatoide Arthritis (Rheuma) und der systemische Lupus erythematodes (SLE) treten häufiger bei Frauen auf. Wenn die Wissenschaft besser versteht, warum Männer diese Krankheiten seltener bekommen, könnte dies zu neuen Therapieansätzen führen. Umgekehrt können auch Männer von Erkenntnissen der Gendermedizin profitieren. Vera Regitz-Zagrosek: Ich möchte zum Beispiel wissen, warum Frauen länger leben und welche Schutzmechanismen sie haben. Mit diesem Wissen können wir Frauen und Männern in Zukunft besser helfen.