Placebo: Die Macht der positiven Erwartung

Wer an den Erfolg seiner Therapie fest glaubt, kann deren Potential besser ausschöpfen. Die Neurowissenschaftlerin Ulrike Bingel erklärt, warum das so ist und wie Patienten diesen Placeboeffekt optimal nutzen.

Frau Professor Bingel, was genau versteht man unter dem Placeboeffekt?

Als Placeboeffekt im klassischen Sinne bezeichnet man eine positive Veränderung körperlicher oder psychischer Art nach der Einnahme von Scheinmedikamenten – also von Medikamenten, die gar keinen Wirkstoff enthalten. Auch ein Scheineingriff, etwa eine vorgetäuschte Operation, kann solche Veränderungen auslösen. Zu einem Placeboeffekt im erweiterten Sinne kommt es auch bei echten Therapien: Ein Medikament beispielsweise wirkt dann besonders gut oder schon in sehr geringer Dosierung, weil der Patient eine positive Erwartung damit verknüpft.

Wie lässt sich der Placeboeffekt auf körperlicher Ebene erklären?

Vereinfacht gesagt werden – insbesondere durch die Erwartung des Patienten, dass ihm die verordnete Therapie helfen wird – im zentralen Nervensystem bestimmte Prozesse in Gang gesetzt, die Auswirkungen auf Vorgänge in anderen Regionen des Körpers haben.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Nehmen wir eines aus der Schmerzmedizin, für die der Placeboeffekt besonders gut untersucht ist: Wenn ein Patient ein vermeintliches Schmerzmedikament erhält, von dem er annimmt, dass es seine Schmerzen lindert, werden allein durch die Einnahme des Mittels im Gehirn bestimmte Areale aktiviert. Das lässt sich mit bildgebenden Verfahren zeigen. Die Aktivität dieser Hirnabschnitte hat unter anderem zur Folge, dass das Gehirn körpereigene Opioide, beispielsweise Endorphine, ausschüttet. Dadurch lassen die Schmerzen tatsächlich nach.

Sind alle Menschen für den Placeboeffekt empfänglich? Dann bräuchte man ja womöglich gar keine Schmerzmittel mehr.

Auf alle Fälle lässt sich sagen, dass manche Menschen für den Effekt empfänglicher sind als andere. Wie gesagt, spielt die Erwartungshaltung des Patienten eine große Rolle. Für diese wiederum ist entscheidend, welche Erfahrungen ein Mensch in der Vergangenheit mit der Einnahme von Medikamenten gemacht hat oder wie groß sein Vertrauen in den Arzt ist, der ihm ein bestimmtes Mittel empfohlen hat.

Interessant ist, dass bei manchen Patienten der Placeboeffekt sogar dann positive Veränderungen in Gang setzen kann, wenn die Betroffenen wissen, dass sie eine Pille ohne Wirkstoff einnehmen. Von Natur aus skeptische Menschen hingegen werden vom Placeboeffekt tendenziell eher weniger oder gar nicht profitieren.

Darüber hinaus scheint die genetische Ausstattung eines Patienten eine Rolle bei der Frage zu spielen, ob und inwieweit er für den Placeboeffekt empfänglich ist. Man wird also definitiv auch weiterhin echte Schmerzmedikamente benötigen – schon deswegen, weil ihre Effekte in der Regel stärker sind als die von Placebos. Das ist eine Grundvoraussetzung für die Zulassung neuer Medikamente.

Sollte man trotzdem versuchen, den Effekt medizinisch zu nutzen?

Unbedingt. Ich bin sogar der Ansicht, dass Medikamente und andere Therapien ohne ihn ihre volle Wirksamkeit gar nicht entfalten können. Darüber hinaus kann der Effekt dabei helfen, die nötige Dosis eines Arzneimittels zu reduzieren. Damit verringert sich natürlich auch das Risiko von Nebenwirkungen. Eine positive Erwartungshaltung des Patienten, die durch das Wissen entsteht, dass die meisten Menschen die verordnete Therapie gut vertragen, minimiert unerwünschte Wirkungen ebenfalls.

Was kann ich als Patient dazu beitragen, dass der Placeboeffekt bei mir möglichst gut greift?

Wichtig ist, sich über die Ziele und Vorteile der geplanten Behandlung möglichst umfassend zu informieren. Fragen Sie Ihren Arzt oder Therapeuten, warum er gerade diese Therapiemethode für Sie ausgewählt hat, wie sie im Körper wirkt und welchen konkreten Nutzen er sich davon verspricht. Ein guter Arzt oder Therapeut sollte sich die Zeit nehmen, ihnen diese Dinge zu erklären. Vertrauen ist entscheidend, deshalb ist es gerade bei langfristigen Behandlungen wichtig, dass die Chemie zwischen Ihnen und dem Arzt stimmt.

Machen Sie sich zudem bewusst, dass auch andere Aktivitäten, etwa ein geplanter Urlaub, mit Risiken verbunden sein können. Sie machen die Reise trotzdem, weil die erhoffte Freude viel stärker wiegt als mögliche Gefahren. Ähnlich sollten Sie an neue Therapien herangehen.

Sehen Sie ethische Konflikte bei der Nutzung des Placeboeffekts?

Ja, immer dann, wenn ein Patient nicht darüber informiert wird, dass er mit einem Placebo behandelt wird. Oder dass zumindest die Möglichkeit besteht, ein Placebo anstelle des echten Medikaments zu erhalten. Das kann zum Beispiel in einer klinischen Studie der Fall sein, in der die Wirkung dieses Arzneimittels überprüft werden soll. Ein solches Nichtwissen würde dem Patienten sein Recht auf eine autonome Entscheidung nehmen.

In welchen Bereichen werden die Grenzen des Placeboeffekts sichtbar?

Grundsätzlich lassen sich mit ihm nur Dinge bewirken, die der Körper selbst auslösen kann. Ein Trümmerbruch im Unterschenkel lässt sich mit keinem noch so guten Placebo heilen. Gerade bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen aber, etwa bei Parkinson, Angst, Depression, Schmerzen oder Fatigue, lässt sich der Effekt meist gut nutzen. Allgemein gilt: Je subjektiver die Symptome sind, desto stärker kann der Placeboeffekt greifen. Bei einem akuten Schlaganfall oder MS-Schub hingegen wird man allein mit einem Placebo nicht weiterkommen.

Wie lässt sich verhindern, dass bei einer Therapie genau das Gegenteil, nämlich der Noceboeffekt, spürbar wird? Also dass eine Behandlung vor allem deshalb nicht gut wirkt, weil der Patient ihr keinen Glauben schenkt?

Ich befürchte, dass der Noceboeffekt im Alltag eine noch größere Rolle spielt als der Placeboeffekt. Erfährt ein Patient beispielsweise von einer Bekannten, wie schlecht diese das ihm verordnete Medikament einst vertragen hat, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass das Arzneimittel auch bei ihm nicht gut wirkt oder Nebenwirkungen hat. Wenn also Ängste wegen möglicher Begleiterscheinungen aufkommen, sollte man den Arzt darauf ansprechen. Meist werden die Risiken eines Medikaments nämlich überschätzt: Als häufig gilt eine Nebenwirkung schon dann, wenn nur ein bis zehn von 100 Behandelten an ihr leiden. Mindestens 90 Prozent der Behandelten tun dies folglich gar nicht.

Insbesondere wenn es bei einer Erkrankung mehrere medizinisch gleichwertige Behandlungsoptionen gibt, sollte man als Patient mitentscheiden können, welche Option die vermutlich beste für einen ist. Denn wer von seiner Therapie überzeugt ist oder zumindest keine Angst vor ihr hat, wird in aller Regel besser von ihr profitieren.