Einsamkeit: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft.

Zu unseren Grundbedürfnissen zählen menschliche Nähe und Zuwendung. Doch gerade daran fehlt es heute vielen Menschen – dem alten Nachbarn vielleicht genauso wie der Schülerin nebenan. Ein Report über Einsamkeit in Deutschland, ihre Folgen für die Gesundheit und neue Initiativen aus Wissenschaft und Politik.

Allein schon der Gedanke an Weihnachten, Silvester oder auch nur ans nächste Wochenende: Wer sich einsam fühlt, mag diese Tage nicht. Sie stehen für Gemeinschaft, Familie, Geborgenheit, aber auch für besonders schmerzhafte Einsamkeit, wenn all das nicht da ist. Anderen zur Last fallen will man nicht, als sozial inkompetent wirken schon gar nicht – also redet man im Privaten lieber nicht darüber.

In der öffentlichen Diskussion jedoch bröckelt das Tabu. Als die britische Regierung im Jahr 2018 eine Ministerin für Einsamkeit ernannte, machte das weltweit Schlagzeilen. Im selben Jahr gelobte auch die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag, das Problem anzugehen. Zum medialen Dauerthema ist es spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie geworden. Ob in Büchern oder Zeitungen, in Talkshows oder im Internet – immer wieder ist von einer Epidemie der Einsamkeit die Rede, die über moderne Gesellschaften hinwegrollt. Aber stimmt das eigentlich?

Flucht aus der Ehe-Einsamkeit

Der Soziologe Dr. Janosch Schobin von der Universität Kassel kann keine neue Einsamkeitsepidemie erkennen. Im Gegenteil: Wenn wir die Statistiken der letzten vierzig Jahre betrachten, ist das Einsamkeitsempfinden in Deutschland relativ stabil geblieben, wenn nicht sogar etwas zurückgegangen«, sagt Schobin, der das Phänomen schon lange erforscht. Der leichte Rückgang seit den 1970er-Jahren sei auch Ausdruck einer Emanzipations-Dividende«, vermutet der Sozialwissenschaftler: Ihre zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit erlaubt es Frauen, der Einsamkeit in einer unglücklichen Partnerschaft zu entfliehen und bessere Beziehungen einzugehen.«

Gesellige Singles

Die hierzulande stark gewachsene Zahl von Single-Haushalten – Anfang der 1990er Jahre machten sie nach Angaben des Statistischen Bundesamts rund 33 Prozent aller Haushalte aus, heute sind es um die 42 Prozent – treibe das Einsamkeitsempfinden nicht automatisch in die Höhe. Ausgleichend wirke zum Beispiel ein Anstieg emotional belastbarer Freundschaften. Schobins Resümee: Trotz zahlreicher Veränderungen in den letzten Jahren bezeichnen sich relativ gleichbleibend fünf bis 15 Prozent der deutschen Bevölkerung als einsam.«

Dass dieser Anteil zu Beginn der Corona-Pandemie nicht generell angestiegen ist, hat ein Team um die Psychologin Dr. Susanne Bücker von der Ruhr-Universität Bochum in einer Online-Tagebuchstudie herausgefunden. Die Untersuchung kam zu einem weiteren überraschenden Ergebnis: Jüngere Befragte fühlten sich im Mittel einsamer als die Älteren (siehe Interview S. 10). Der Befund will ganz und gar nicht zum immer noch vorherrschenden Bild von den alleingelassenen, traurigen Alten passen. Aber er entspricht dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand. So zeigt der Deutsche Alterssurvey (DEAS), eine in regelmäßigen Abständen stattfindende Befragung Tausender Frauen und Männer zwischen 40 und 85 Jahren, dass nur wenige von ihnen im mittleren und höheren Alter einsam sind. Erst im hohen Alter, ab etwa 80 Jahren, kommt es zu einem Anstieg der Einsamkeit, bei Frauen etwas stärker als bei Männern. Die Gründe dafür haben häufig mit Erkrankungen, abnehmender körperlicher Mobilität oder dem Verlust nahestehender Menschen zu tun. Auch Altersarmut kann das Risiko für Einsamkeit und soziale Isolation erhöhen.

Wie Hunger oder Angst

Doch sind alle, die sozial isoliert leben, auch gleich einsam? Keineswegs«, sagt Susanne Bücker. Aber neben dem selbstgewählten, erfüllten Alleinsein gebe es eben auch die schmerzliche Einsamkeit. Wann und wie sie sich bemerkbar mache, sei von Person zu Person sehr verschieden: Manchen reiche es, einmal in der Woche mit einem vertrauten Menschen zu telefonieren, andere brauchen deutlich mehr Kontakt. In der Psychologie definieren wir Einsamkeit als die wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen Beziehungen. Wenn man sich beispielsweise jemandem anvertrauen möchte, aber niemanden zum Reden hat, wenn man gehört werden möchte, aber kein Gehör findet«, sagt die Bochumer Wissenschaftlerin. Im Grunde kenne jeder Mensch dieses Gefühl. Positiv verstanden sei es ein Alarmzeichen, das uns ähnlich wie Hunger oder Angst zum Handeln auffordert – in diesem Fall zum Knüpfen von Kontakten. Susanne Bücker: Krankhaft wird Einsamkeit erst dann, wenn tiefe Traurigkeit, Antriebslosigkeit und sozialer Rückzug hinzukommen – wenn man also richtig unter ihr leidet.«

Folgen für die Gesundheit

Langanhaltende Einsamkeit, das ist in der Wissenschaft unumstritten, kann sich negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirken. Sie erhöht nachweislich das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs sowie für neurologische Leiden wie Depressionen, Schlafstörungen, Angsterkrankungen und Demenz. Und sie kann die Lebenszeit verkürzen, wie mehrere Studien überzeugend nachweisen: Das Risiko für einen vorzeitigen Tod liegt bei sozial isolierten, einsamen Menschen um rund 25 Prozent höher als bei Nicht-Einsamen. Umgekehrt erhöht ein gutes soziales Netzwerk nachweislich die Chancen auf Langlebigkeit.

Was bei Einsamkeit im Körper passiert, verstehen Wissenschaftler seit einigen Jahren immer besser. Im Kopf scheint das Gefühl in einem bestimmten Areal der Großhirnrinde, dem Anterioren Cingulären Cortex (ACC), verankert zu sein. Dieser Bereich ist für die Verarbeitung negativer Emotionen wie Schmerz oder Stress zuständig. Neurowissenschaftler wie Professor Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit, verstehen langanhaltende Einsamkeit denn auch als chronischen sozialen Stress.

Auf den Hormonhaushalt und das Immunsystem kann dieser Stress sich sehr negativ auswirken«, sagt der Psychiater Meyer-Lindenberg. Einsame Menschen haben zum Beispiel oft mehr entzündungsfördernde Botenstoffe im Blut als Mitmenschen, die sich guter sozialer Beziehungen erfreuen – das geht aus mehreren Studien hervor. Die Botenstoffe können schwelende Entzündungen hervorrufen. Diese wiederum werden heute mit einer großen Zahl von Krankheiten in Verbindung gebracht – von Herz-Kreislauf-Beschwerden über neurologische Erkrankungen bis hin zu Krebs.

Abgekapselt und nur schwer erreichbar

Die gesundheitliche Abwärtsspirale setzt bei einsamen Menschen oft im Kleinen ein. Manche ernähren sich nur noch einseitig, weil ihnen der Spaß am Essen fehlt, andere werden zunehmend träge und bewegen sich kaum. Wenn dann noch Krankheit und Armut hinzukommen, entsteht ein Sog, dem sich Einsame nur schwer entziehen können. Die starke Zunahme einsamer Bestattungen lässt mich vermuten, dass es in unserer Gesellschaft bestimmte Gruppen gibt, die im Laufe der Jahre einsamer, misstrauischer und verbitterter geworden sind«, sagt der Kasseler Soziologe Schobin. Die Menschen kapselten sich ab, an sie heranzukommen sei sehr schwer. Und sobald das Wort Einsamkeit« falle, zögen sich die offensichtlich Einsamen noch mehr in sich zurück.

Für mehr Zusammenhalt

Das Thema ist bei uns sehr schambesetzt«, sagt Janosch Schobin. Er ist in Chile aufgewachsen und Teile seiner Familie leben noch dort. In der chilenischen Kultur ist es ganz normal, offen über die eigene Einsamkeit zu sprechen«, berichtet er. Wer das tue, könne sicher sein, dass bald Besuch anklopfe oder eine Einladung zum Essen komme. Mann, die Einsamkeit bringt mich noch um«, sagte einmal ein betagter Nachbar zu ihm. Das war in New York, wo ich vor ein paar Jahren lebte«, erzählt Schobin, und natürlich habe ich ihn zu mir eingeladen, wir sind sogar Freunde geworden.«

Heute berät der Soziologe Wohlfahrtsverbände wie das Deutsche Rote Kreuz und Nachbarschaftsinitiativen wie die Frankfurter Pontifeen«, die Menschen aus der Vereinsamung heraushelfen wollen. Der Sozialstaat, so Schobins Eindruck, tue sehr viel, um Bürgerinnen und Bürger im gesellschaftlichen Netz zu halten. Für einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt setzt sich auch der nordrhein-westfälische Landtag ein. Er berief im Mai 2020 eine Enquetekommission zum Thema Einsamkeit ein, die Strategien zur Bekämpfung sozialer Isolation und den daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit erarbeiten soll. Da geht es von der Quartiersplanung bis hin zu neuen Ansätzen für Bildung und Arbeitsmarkt – das Spektrum ist sehr groß«, berichtet Susanne Bücker, die als sachverständiges Mitglied in der Kommission arbeitet. Öffentlich vorgestellt werden die neuen Konzepte voraussichtlich im Jahr 2022.

Je mehr in Politik und Medien über Einsamkeit gesprochen wird, desto weniger, so die Hoffnung, empfinden Betroffene sie als persönlichen Makel. Das wäre der erste Schritt, um als Individuum mit dem Problem fertig zu werden. Für den zweiten Schritt gibt es heute schon eine ganze Reihe fundierter Empfehlungen (siehe Kasten) – und mit zunehmender Forschung werden es mehr. Weihnachten, Silvester, das nächste Wochenende? Es können schöne Tage werden.