Demenz: Das Herz wird nicht dement

Wie gut sich Demenzkranke beim gemeinsamen Singen fühlen, zeigt das ungewöhnliche Chorprojekt Unvergesslich. Es wurde nicht nur von Kameras begleitet, sondern auch von Wissenschaftlern, die zu erstaunlichen Ergebnissen kamen.

Und immer, immer wieder geht die Sonne auf – lauthals klingt ein Satz durch den Raum, der für diejenigen, die ihn singen, eine größere Bedeutung hat, als auf den ersten Blick sichtbar ist. Die Sängerinnen und Sänger haben alle eine Demenzerkrankung und die letzten Wochen hart daran gearbeitet, das Lied von Udo Jürgens einzustudieren. Es ist ein Lied, das eine positive Einstellung zum Leben vermittelt, egal wie schwer es gerade ist – und das auch Demenzpatientinnen und -patienten Mut machen kann.

Die Sängerinnen und Sänger sind Teilnehmer eines außergewöhnlichen Chorprojekts, für das die Schauspielerin Annette Frier und der Chorleiter Eddi Hüneke (bekannt als ehemaliger Sänger der A-cappella-Gruppe Wise Guys) im Rahmen des ZDF-Dokumentationsformats Unvergesslich – Unser Chor für Menschen mit Demenz eine Gesangsgruppe der besonderen Art gegründet haben.

Wir wollten wissen, ob Musik und gemeinschaftliches Singen das Wohlbefinden von an Demenz erkrankten Menschen verbessern kann und ob es möglich ist, trotz aller Einschränkungen beim Singen Momente des Glücks zu empfinden, sagt Annette Frier. Denn schließlich heißt es doch: Das Herz wird nicht dement.

Ein Chor mit Anspruch

Für das Projekt fanden sich in diesem Frühjahr 19 Betroffene zwischen 61 und 93 Jahren für zwei Monate zusammen, um gemeinsam zu singen. Dabei wurden nicht nur bekannte Schlager oder Volklieder gesungen, wie man es aus anderen Projekten zu musiktherapeutischen Maßnahmen kennt, es wurden auch zwei neue, anspruchsvollere Lieder einstudiert: Udo Jürgens’ Immer wieder geht die Sonne auf und Über den Wolken von Reinhard Mey.

Begleitet wurde das Chorprojekt von einem Wissenschaftlerteam aus dem Bereich Altersmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Unsere Studie erfasst erstmalig die subjektiven psychologischen und psychosozialen Auswirkungen des gemeinsamen Chorsingens sowie physiologische, also messbare körperliche Effekte bei Menschen mit Demenz und darüber hinaus auch die Perspektive der Angehörigen, sagt der Diplom-Psychologe und Musikwissenschaftler Arthur Schall, der die Studie mit leitet.

Dafür wurden zu Beginn und zum Ende des Projektes bei den Demenz-Betroffenen und bei ihren begleitenden Angehörigen unter anderem eine mögliche depressive Symptomatik und Aspekte der Lebensqualität per Fragebögen erfasst. Zudem sollten die Sängerinnen und Sänger vor und nach jeder Probe auf einer visuellen Smiley-Skala ihr emotionales Wohlbefinden einschätzen. Mithilfe von Speichelproben erfassten die Wissenschaftler vor und nach dem gemeinsamen Singen zusätzlich die Menge des Stresshormons Cortisol, das als Marker für körperliche Anspannung dienen kann.

Das Wohlbefinden steigt

Die Ergebnisse der Untersuchung waren erstaunlich: In den subjektiven Bewertungen der Chorteilnehmer spiegelt sich eine erhebliche Steigerung des Wohlbefindens während jeder einzelnen Probe, aber auch über die Dauer des gesamten Projekts wider. Das lässt sich physiologisch untermauern: Ab der vierten Chorprobe lagen die Cortisolspiegel nach der Probe im Vergleich zu vorher deutlich niedriger, so Arthur Schall. Auch die Befragung der Angehörigen zeigte eindeutige Verbesserungen: Waren vorher depressive Symptome ermittelt worden, so nahmen diese im Verlauf des Projekts ab. Ein Ergebnis, das belegt, wie wichtig es ist, bei möglichen Maßnahmen bei einer Demenzerkrankung auch immer das Wohlbefinden der Angehörigen im Blick zu haben. Arthur Schall: Mit dieser Studie liegen nun wissenschaftlich relevante Ergebnisse vor, die wir zwar erhofft hatten, die uns aber trotzdem auch überraschen und sehr erfreuen. Daher wollen wir sie so schnell wie möglich für Fachkreise veröffentlichen, um Konsequenzen für die Praxis erarbeiten zu können. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass kreative Interventionen wie gemeinsames Singen tatsächlich einen therapeutischen Effekt bei den Betroffenen haben können. Das gilt weniger für demenzielle Symptome oder den Verlauf der Demenz als vielmehr für Begleiterscheinungen der Erkrankung wie Apathie oder Agitation. sagt Schall. Wenn sich Erkrankte also extrem in sich zurückzögen oder im Gegenteil sehr unruhig und unausgeglichen seien, könne eine Musiktherapie eine medikamentöse Behandlung durchaus ergänzen oder sogar ersetzen.

Stolz auf die eigene Leistung

So hat es auch Annette Frier empfunden: Musizieren ist zwar keine Heilung, aber es ist eine Linderung. Es wirkt wie ein Medikament. Ich habe es als absolute Pille empfunden. Der Leiter des Chors, Eddi Hüneke, pflichtet dem bei: Meine Mutter hat Demenz und ich weiß, wie gut es ihr tut, wenn wir zusammen singen. Ich fand es allerdings bemerkenswert, wie sich unsere Sängerinnen und Sänger der Herausforderung, neue Lieder zu erlernen, gestellt haben und wie sie dabei über sich hinausgewachsen sind. Der Chor habe sich auch durch die Filmaufnahmen nicht aus der Ruhe bringen lassen – das sei selbst für Profis nicht einfach, sagt Hüneke. Es war toll zu sehen, wie stolz alle darauf sind, etwas zu schaffen, das ihnen in diesem Ausmaß vorher keiner zugetraut hätte.

Die positiven Erfahrungen aller Sängerinnen und Sänger führten auch zu Verbesserungen im Alltag, was auch die Angehörigen freut: Mein Mann ist viel aktiver, möchte etwas unternehmen und hat viel mehr Interesse an der Umwelt, Meine Frau hilft wieder viel im Haushalt und redet deutlich mehr, Meine Mutter singt die ganze Zeit und kann sich an Dinge erinnern, die lange verborgen waren – solche Beobachtungen unterstreichen, wie wichtig psychosoziale Maßnahmen bei Demenz sein können.

Einziger Wehrmutstropfen: Das als krönender Abschluss des Chorprojekts geplante Abschlusskonzert, das Mitte März stattfinden sollte, musste wegen der Corona-Pandemie ausfallen. Aber seit September finden unter strengen Hygienebedingungen wieder Proben statt und es gibt bereits Überlegungen, die Aufführung so bald wie möglich nachzuholen. Ganz nach dem Motto: Immer wieder geht die Sonne auf.