Spinale Muskelatrophie: Nusinersen hilft auch nach langer Krankheit
Gut untersucht waren die Effekte des ersten zugelassenen Medikaments gegen die Spinale Muskelatrophie (SMA) bis vor Kurzem nur bei Kindern. Aktuelle Studien konzentrieren sich vermehrt auf Erwachsene. Klar ist bereits, dass der Wirkstoff auch bei ihnen die motorischen Funktionen verbessern und so das Leben erleichtern kann. Wir haben mit Professor Tim Hagenacker gesprochen, der sich auf die Therapie erwachsener SMA-Patienten spezialisiert hat.
Herr Professor Hagenacker, warum wurde Nusinersen bisher fast nur in Studien mit Kindern bis zwölf Jahren untersucht?
Man ging davon aus, dass die besten Effekte der Therapie früh im Leben erzielt werden, wenn im Rückenmark noch viele Motoneuronen vorhanden sind – jene Nervenzellen also, die bei SMA-Patienten nach und nach absterben. Denn kein Medikament ist ja in der Lage, bereits verloren gegangene Zellen zurückzubringen.
Hätte man nicht trotzdem auch Erwachsene in die Zulassungsstudien miteinbeziehen sollen?
In der Tat wurden diese Patienten zunächst ein wenig vergessen. Das ist in vielen Ländern Europas auch noch immer ein großes Problem. Während bei uns die Therapie mit Nusinersen altersunabhängig und für alle Typen der SMA zugelassen wurde und damit auch von den Krankenkassen erstattet wird, war sie beispielsweise in Österreich und der Schweiz lange Zeit – weil wissenschaftliche Daten für Jugendliche und Erwachsene fehlten – Kindern vorbehalten. In anderen Ländern ist das leider bis heute so.
Allerdings wissen wir inzwischen, dass die Effekte von Nusinersen tatsächlich umso geringer sind, je weiter die SMA bereits vorangeschritten ist. Hätte man also von Beginn an erwachsene Patienten in die Studien miteinbezogen, wären viele positive Effekte im statistischen Mittel vielleicht gar nicht aufgefallen.
Wie viele erwachsene Patienten erhalten Nusinersen inzwischen – in Deutschland und weltweit?
Genau kann ich das leider nicht sagen. Man geht davon aus, dass weltweit mittlerweile rund 10.000 Patienten mit dem Wirkstoff behandelt werden. Die meisten von ihnen sind Kinder. Wir wissen auch nur ungefähr, wie viele erwachsene Patienten mit SMA es in Deutschland überhaupt gibt. Geschätzt sind es 1.000 bis 1.500. Unklar ist ebenfalls, wie viele von ihnen Nusinersen erhalten. In unserer Klinik behandeln wir zurzeit mehr als 60 Erwachsene mit dem Medikament.
Welches sind die wichtigsten Fragen, die man mithilfe der Nusinersen-Anwendungsstudie, an der auch Ihre Klinik teilnimmt, beantworten will?
In einer der ersten Studien mit Erwachsenen, die wir im vergangenen Frühjahr in der Fachzeitschrift Lancet Neurology veröffentlicht haben, konnten wir bereits zeigen, dass sich während der Therapie mit Nusinersen die motorischen Fähigkeiten der Probanden signifikant und kontinuierlich verbesserten.
Die Nusinersen-Anwendungsstudie, die von Professor Thomas Meyer von der Charité - Universitätsmedizin Berlin koordiniert wird, hat einen etwas anderen Fokus: Mit ihr will man unter anderem herausfinden, inwieweit die Therapie den Patienten hilft, ihren Alltag zu bewältigen und ihrem Beruf weiter nachzugehen. Es geht aber auch darum, wie sehr die Begleitumstände der Lumbalpunktion, bei der das Medikament in den Rückenmarkskanal injiziert wird, die Patienten womöglich belasten.
Welche Bedeutung, auch im Hinblick auf die neue Leitlinie, werden die Ergebnisse dieser und ähnlicher Studien für erwachsene SMA-Patienten haben?
Wir haben schon jetzt den Beweis erbracht, dass Nusinersen generell gut verträglich ist und auch im Erwachsenenalter, wenn die Wirbelsäule oft schon stark verkrümmt ist, in der Regel ohne größere Probleme verabreicht werden kann. Darüber hinaus erzielt das Medikament bei den meisten Patienten positive Effekte. Das heißt, die Behandlung – die ja langfristig erfolgen muss – ist auch bei Erwachsenen gerechtfertigt und sollte ihnen in jedem Fall angeboten werden, um ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Dazu werden wir auch in der Leitlinie raten, die voraussichtlich Ende des Jahres veröffentlicht wird.
Es wird darin auch um Risdiplam gehen, ein weiteres SMA-Medikament, das sich anders als Nusinersen als Saft einnehmen lässt. Welche der beiden Behandlungsoptionen für welchen Patienten die bessere ist, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Da Risdiplam noch nicht zugelassen ist und derzeit nur im Rahmen eines Härtefallprogramms verordnet werden darf, wenn Nusinersen nicht wirkt oder sich nicht gut verabreichen lässt, ist die Entscheidung momentan aber auch nicht dringlich. Ich gehe jedoch davon aus, dass Risdiplam, das aufgrund seiner geringen Molekülgröße die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, noch in diesem Jahr eine Zulassung erhalten wird.
Haben Sie in Ihrer Klinik schon Patienten mit Risdiplam behandelt?
Ja, wir haben vor etwa sechs Monaten damit begonnen. Sicherlich ist es noch etwas früh, um ein Resümee zu ziehen, aber ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir auch mit diesem Wirkstoff positive Resultate bei Erwachsenen sehen werden.
Werden Daten zu den Effekten einer Behandlung mit Nusinersen oder Risdiplam irgendwo zentral gesammelt und ausgewertet?
In Deutschland gibt es bereits seit vielen Jahren ein Register für SMA-Patienten, in dem sich die Patienten selbst oder, bei Kindern, deren Eltern registrieren können. Ergänzend dazu haben wir Ärzte vor etwa drei Jahren eine Datenbank namens SMARTCARE ins Leben gerufen, um ein besseres Verständnis für den natürlichen Krankheitsverlauf und den Einfluss medikamentöser Therapien zu erhalten.
Für dieses Projekt wollen wir Real-World-Daten aus der Verlaufsbeobachtung von SMA-Patienten systematisch und möglichst umfassend, also zum Beispiel auch zu Schluck- und Atemfunktionen, zusammentragen. Entsprechende Daten aus klinischen Untersuchungen fließen dort natürlich ebenfalls mit ein.
Welche Behandlungsziele halten Sie bei erwachsenen Patienten für realistisch?
Generell lässt sich sagen, dass die Effekte von Nusinersen – und vermutlich auch die von Risdiplam – umso größer sind, je besser die motorischen Fähigkeiten zu Beginn der Therapie noch sind. Patienten, die beispielsweise noch selbstständig laufen können, dürfen sich somit besonders große Erfolge von der Behandlung erhoffen.
Andere, die womöglich schon im Rollstuhl sitzen, können vielleicht eher damit rechnen, dass sich ihr Zustand nicht weiter verschlechtert. Aber auch das ist ja bei einer normalerweise fortschreitenden Erkrankung schon ein erstrebenswertes Ziel. Oft sind es vermeintlich bescheidene Fähigkeiten, zum Beispiel die Kontrolle über die eigene Hand oder auch nur über den Zeigefinger, die zu deutlich mehr Autonomie im Alltag verhelfen.
Welche positiven Ergebnisse haben Sie persönlich bisher bei Erwachsenen erzielt?
Ich erinnere mich vor allem an eine junge Patientin, die mir zu Beginn der Therapie berichtet hatte, dass die Wege, die sie zurücklegen könne, in den vergangenen Jahren kürzer und kürzer geworden seien. Zudem benötigte sie beim Gehen immer mehr Pausen. Mit Nusinersen besserte sich ihr Zustand so deutlich, dass sie nach ein paar Monaten sogar ein Studium in einer anderen Stadt, fernab ihrer Familie, aufnehmen konnte.
Gab es auch negative Erfahrungen?
Vielleicht insofern, als dass bei vielen erwachsenen Patienten die Wirbelsäule infolge der Erkrankung bereits so stark verkrümmt ist, dass die Lumbalpunktion nur im Computertomographen, also im CT, erfolgen kann. Damit verbunden ist natürlich jedes Mal eine gewisse Strahlenbelastung. Gerade bei einer langfristigen Therapie müssen wir das im Kopf behalten und auch über Alternativen nachdenken. Risdiplam, das einen sehr ähnlichen Wirkmechanismus wie Nusinersen besitzt, könnte sich diesbezüglich zu einer echten Option entwickeln. Vereinzelt haben wir die Therapie beenden müssen, weil auch nach einem Jahr noch keine Besserung oder zumindest ein Stillstand der Symptomatik eingetreten war. Manche Patienten empfinden die Lumbalpunktion und deren Nebenwirkungen wie vorübergehende Kopf- und Rückenschmerzen oder Übelkeit als sehr unangenehm. Allerdings habe ich es bislang noch nicht erlebt, dass jemand seine Therapie aus diesem Grund abgebrochen hätte. ab