Psyche: Wenn Corona auf die Nerven geht
Eine Infektion mit dem Coronavirus kann nicht nur die Lunge, sondern auch das Nervensystem angreifen. Neuro-COVID wird das Phänomen genannt. Seine Symptome reichen von eher harmlosen Geruchs- und Geschmacksstörungen bis hin zu gefährlichen Schlaganfällen und
Gehirnentzündungen. Privatdozent Dr. Gerd Meyer zu Hörste, Neurologe am Universitätsklinikum Münster und Autor einer aktuellen Studie,
erläutert, wie es zu den neurologischen Beschwerden kommen kann und was sie für die Betroffenen bedeuten.
Herr Dr. Meyer zu Hörste, welches sind die häufigsten und welches die bedrohlichsten Symptome von Neuro-COVID?
Die häufigsten sind sicherlich Riechstörungen, die aber eher trivial und meist vorübergehend sind. Darüber hinaus gibt es eine ganze Palette möglicher Folgen. Am gefährlichsten sind meines Erachtens diejenigen, die die Gefäße betreffen – also Schlaganfälle aufgrund von Blutgerinnseln im Gehirn oder auch die seltener vorkommenden Hirnblutungen. Gerade bei älteren Patienten beobachten wir zudem eine allgemeine kognitive Leistungsschwäche. Auch entzündliche Veränderungen des Gehirns oder psychiatrische Symptome sind mögliche Folgen einer Corona-Infektion.
Was weiß man bislang über die Ursachen der neurologischen Beschwerden? Wie gelingt es dem Virus, sie auszulösen?
Es gibt sowohl direkte als auch indirekte Schädigungen. Wir haben inzwischen gute Belege dafür, dass sich das Virus tatsächlich von der Nase aus entlang des Riechnervs bis ins Gehirn ausbreiten kann und dabei die befallenen Zellen zerstört. Die Riechstörung ist also offenbar eine direkte Folge der Infektion.
Viele der lang andauernden Symptome haben hingegen vermutlich eher immunologische, also indirekte Ursachen. Es gibt zum Beispiel deutliche Hinweise darauf, dass es in der Frühphase der Infektion oft zu einer überschießenden Reaktion des Immunsystems kommt. Dabei werden große Mengen Entzündungsbotenstoffe ausgeschüttet. Diese schädigen entweder direkt das Gehirn und dessen Gefäße oder verursachen andere Organschäden, die sich dann wiederum – etwa durch eine mangelnde Versorgung mit Sauerstoff – negativ auf das Gehirn auswirken.
Vereinzelt kommt es zudem zu Autoimmunreaktionen infolge der Infektion mit SARS-CoV-2. Man hat zum Beispiel, übrigens auch nach Corona-Impfungen, im Blut Antikörper gegen Blutplättchen gefunden – also gegen Strukturen, die an der Gerinnung des Blutes ganz wesentlich beteiligt sind.
Wie hoch ist der Anteil unter den COVID-19-Patienten, die zusätzlich Neuro-COVID entwickeln?
Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten. Denn die meisten neurologischen Symptome werden erst dann bemerkt, wenn ein Patient schwer erkrankt ist und im Krankenhaus liegt. In Studien wird teilweise von einem Anteil von bis zu 60 Prozent gesprochen. Diese Zahl ist meines Erachtens aber viel zu hoch gegriffen: Nicht 60 Prozent aller Corona-Infizierten entwickeln schwere neurologische Symptome.
Andere Studien sind auf Werte zwischen fünf und 30 Prozent gekommen. Aber auch da handelte es sich um Probanden, die wegen COVID-19 im Krankenhaus behandelt werden mussten, also sicherlich zu den schwerer betroffenen Patienten gehörten. Ich würde schätzen, dass, wenn man alle Corona-Infizierten zusammennimmt, etwa einer von hundert an Neuro-COVID erkrankt. Lediglich Geruchs- und Geschmacksstörungen kommen deutlich häufiger vor, vielleicht bei etwa jedem dritten Infizierten.
Welche Patienten sind besonders gefährdet, an Neuro-COVID zu erkranken, und warum?
Es gibt eine ganz klare Korrela-tion zwischen dem Schweregrad der COVID-19-Erkrankung und dem Entstehen von Neuro-COVID: Patienten, die schwer erkrankt sind, entwickeln deutlich häufiger als andere zusätzlich neurologische Symptome. Da beispielsweise ältere Menschen, die noch nicht geimpft sind, öfter einen schweren COVID-19-Verlauf haben als jüngere, sind sie auch vermehrt von Neuro-COVID betroffen.
Haben Patienten mit neurologischen Erkrankungen generell ein höheres Risiko, bei einer Infektion mit dem Coronavirus Neuro-COVID zu entwickeln?
Man weiß, dass viele neurologische Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19 einhergehen. Somit sind neurologisch erkrankte Patienten indirekt gefährdet, verstärkt auch Neuro-COVID zu entwickeln. Es ist aber nicht so, dass einzelne neurologische Krankheitsbilder, zum Beispiel Multiple Sklerose oder Parkinson, einen direkten Einfluss auf das Risiko für Neuro-COVID oder bestimmte neurologische Symptome haben.
Gibt es Möglichkeiten, um sich explizit vor Neuro-COVID zu schützen – die also über den allgemeinen Schutz vor einer Corona-Infektion hinausgehen?
Nein, die gibt es meines Wissens leider nicht.
Warum bleiben die neurologischen Beschwerden oft nach Abklingen der akuten Infektion weiter bestehen?
Auch das ist eine schwierige Frage. Die genaue Ursache für alle Long-COVID-Symptome ist nach wie vor unverstanden. Es gibt aber zumindest Hinweise darauf, dass die überschießende Immunreaktion in der Akutphase der Erkrankung in eine immunologische Erschöpfungsreaktion übergeht.
Auch in unserer Studie, auf die wir später noch ausführlicher eingehen können, haben wir gezeigt, dass die Immunzellen im Nervenwasser
bei Patienten mit Neuro-COVID er-schöpft aussehen. Andere Wissenschaftler haben in der Lunge oder im Blut schwer erkrankter Patienten ähnliche Beobachtungen gemacht. Ich glaube daher, dass die Erschöpfung der Immunzellen eine ganz wesentliche Ursache der lang anhaltenden COVID-Beschwerden ist. Bewiesen ist das allerdings noch nicht.
Einzelne Patienten scheinen zudem Autoimmunreaktionen zu entwickeln: Bei ihnen greift das Immunsystem infolge der Corona-Infektion den eigenen Körper an. Die Ursachen hierfür sind bislang erst recht nicht verstanden.
Müssen Betroffene mit langfristigen Folgeschäden rechnen?
Zu dieser Frage gibt es bisher wenige wissenschaftliche Daten. Momentan scheint es so zu sein, dass sich die Beschwerden bei den meisten Patienten mit der Zeit allmählich bessern. Dennoch können wir nicht ausschließen, dass es in Einzelfällen auch zu lang anhaltenden Folgeschäden kommen kann. Welche Patienten davon betroffen sein werden, lässt sich bislang nicht vorhersagen.
Wie werden die neurologischen Beschwerden behandelt?
Vorrangig bemühen wir uns darum, die Symptome zu lindern. Bei einigen Patienten hat man zudem versucht, mit immunmodulatorischen Wirkstoffen – also mit Medikamenten, die das Immunsystem verändern – eine Besserung zu erzielen. In der Akutphase helfen oft Substanzen wie Dexamethason, die die Aktivität des Immunsystems über eine Blockade von Immunbotenstoffen drosseln. Auch kortisonhaltige Asthmamittel scheinen sich zu diesem Zeitpunkt der Erkrankung positiv auf die Beschwerden auszuwirken. Wenn man also die überschießende Immunreaktion zu Beginn der Erkrankung besser als bisher in den Griff bekommt, könnte das die darauf folgende Erschöpfung des Immunsystems womöglich verhindern. Viele andere Wirkstoffe, die das Immunsystem beeinflussen, werden daher derzeit untersucht.
Inwieweit werden Neuro-COVID-Patienten nach dem Abklingen der akuten Symptome weiterhin ärztlich betreut?
Mehrere Kliniken hierzulande haben spezielle Ambulanzen für Long-COVID-Patienten eingerichtet. Dort werden den Betroffenen vor allem verschiedene Rehabilitations-Maßnahmen, zum Beispiel Physiotherapie, angeboten, um die körperliche Leistungsfähigkeit der Patienten wieder herzustellen. Offizielle Empfehlungen, wie mit Long-COVID-Symptomen umzugehen ist, gibt es bisher nicht. Auch in den Leitlinien zu Neuro-COVID geht es derzeit vorrangig um die Behandlung der akuten Beschwerden. Wie oft und in welchen Abständen die Patienten nach deren Abklingen medizinisch untersucht werden, ist von Arzt zu Arzt und Klinik zu Klinik sehr unterschiedlich.
Wie hoch ist die Sterblichkeitsrate bei Neuro-COVID? Inwieweit unterscheidet sie sich von der Sterberate einer schweren COVID-19-Erkrankung ohne neurologische Komplikationen?
Tödlich an COVID-19 sind vor allem die Lungenkomplikationen, weniger die neurologischen Beschwerden – mit Ausnahme der Schlaganfälle und der schweren Gehirnentzündungen. Allerdings verstärken sich die beiden Krankheitsbilder meist gegenseitig. Daher ist es schwierig, die Sterberaten getrennt voneinander zu betrachten und zu beziffern. Allgemein lag die Rate in Deutschland zuletzt bei 2,75 Prozent, weltweit bei 2,42 Prozent. Das heißt, zwei bis drei von hundert Corona-Infizierten sterben an der Erkrankung.
Welche wichtigen Ergebnisse hat Ihre kürzlich in der Fachzeitschrift Immunity veröffentlichte Studie geliefert?
Das Besondere an unserer Studie ist, dass wir erstmals Immunzellen im Nervenwasser von acht Patienten mit Neuro-COVID untersucht haben und dazu eine sehr moderne Technik nutzen konnten. Mit ihr lässt sich in einzelnen Immunzellen ermitteln, welche Gene in den Zellen jeweils aktiv sind und in Proteine umgewandelt werden. Ein großer Vorteil der Methode ist es, dass man Untersuchungen anstellen kann, ohne zuvor eine Hypothese aufgestellt haben zu müssen – also sehr offen und unvoreingenommen an die Sache herangehen kann.
Herausgefunden haben wir, dass die Gene, die mit Erschöpfungszuständen von Immunzellen bereits in früheren Studien in Verbindung gebracht worden sind, insbesondere in Studien zu Krebs und entzündlichen Erkrankungen, in den T-Zellen des Nervenwassers von Neuro-COVID-Patienten ein sehr ähnliches Aktivitätsmuster aufweisen. Daraus schließen wir, dass die Immunzellen im Nervenwasser tatsächlich erschöpft sind – auch wenn wir das streng genommen eigentlich noch in weiteren wissenschaftlichen Experimenten beweisen müssen.
Sind solche Folgestudien geplant?
Bisher leider nicht. Das liegt unter anderem daran, dass Studien mit Zellen aus dem Nervenwasser technisch extrem schwierig durchzuführen sind, da der Liquor viel weniger Immunzellen enthält als beispielsweise das Blut. Zudem besitzt der Mensch nur eine vergleichsweise geringe Menge Nervenwasser, sodass wir für wissenschaftliche Zwecke höchstens an einige Tropfen herankommen.
Dennoch ist es natürlich unser Ziel, weitere Belege für die Erschöpfung der Immunzellen im Nervenwasser zu liefern. Indirekt bestätigt werden unsere Ergebnisse dadurch, dass andere Forscher bei Immunzellen des Atemtrakts von schwer erkrankten COVID-19-Patienten sehr ähnliche Beobachtungen gemacht haben wie wir.
Bemerkenswert ist übrigens auch, dass die Immunzellen des Nervenwassers auf das Virus ganz offenbar reagieren, obwohl man den Erreger bisher nur im Hirngewebe und nicht im Nervenwasser aufgespürt hat. Es sind also noch viele Fragen offen.
Lassen sich mithilfe Ihrer bisherigen Erkenntnisse trotzdem bessere Behandlungsmethoden für Neuro-COVID entwickeln?
Unsere Ergebnisse legen nahe, dass man mit sogenannten Checkpoint-Inhibitoren – dabei handelt es sich um Antikörper, die gezielt eine Bremse der Immunzellen lösen – das Immunsystem wieder aktivieren könnte. Man kennt diese Medikamente bislang vor allem aus der Krebstherapie, aber womöglich helfen sie auch Patienten mit lang anhaltenden COVID-Symptomen. Momentan ist das aber wie gesagt nur eine Vermutung.
Da Checkpoint-Inhibitoren viele Nebenwirkungen haben, erscheint mir ein möglicher Einsatz zudem nur dann sinnvoll, wenn man als Arzt wirklich schon mit dem Rücken zur Wand steht und keine andere Behandlungsoption mehr sieht. Ohnehin hoffe ich, dass die Zahl der Patienten mit schweren Neuro-COVID-Symptomen durch die Impfung schon bald deutlich sinken wird. Trotzdem werden wir mit den lang anhaltenden neurologischen Beschwerden sicherlich noch eine ganze Weile beschäftigt sein.
Welches sind die wichtigsten noch offenen Fragen?
Mich persönlich interessiert besonders, warum einzelne Menschen infolge der Corona-Infektion Autoimmunreaktionen entwickeln. Hier bei uns in der Klinik hatten wir beispielsweise zwei Patienten, bei denen innerhalb von zwei, drei Wochen nach einer durchgestandenen COVID-19-Erkrankung eine chronische Entzündung der peripheren Nerven, das sogenannte Guillain-Barré-Syndrom, auftrat. In anderen Kliniken wurden weitere Fälle dieser ansonsten sehr seltenen Autoimmunerkrankung beobachtet.
Interessant finde ich zudem die Frage, wie es SARS-CoV-2 überhaupt gelingt, bei so vielen Infizierten neurologische Beschwerden hervorzu-rufen. Das war bei anderen Coronaviren – etwa dem SARS-Virus, das in den Jahren 2002/2003 kursierte, oder dem MERS-Virus, das erstmals 2012 Menschen infizierte – nur ganz selten der Fall.
Heißt das, wir können doch mit weiteren Studien von Ihnen zum Thema Neuro-COVID rechnen?
Vermutlich ja. Aber ich wünsche mir natürlich, dass viele dieser Studien spätestens in einem halben Jahr nicht mehr nötig sein werden, weil es die Erkrankung dann hoffentlich kaum noch gibt. Darüber hinaus habe ich übrigens noch einen weiteren Wunsch: Ich möchte alle Menschen bitten, sich bei plötzlichen neurologischen Symptomen so rasch wie möglich in ärztliche Behandlung, sprich in ein Krankenhaus, zu begeben. Dies aus Angst vor einer dort möglichen Infektion mit SARS-CoV-2 zu unterlassen, kann im schlimmsten Fall tödlich enden. Ein Schlaganfall muss auch in Pandemiezeiten schnellstmöglich behandelt werden. • ab