Multiple Sklerose: Training für ein Leben mit MS

Eine Rehabilitation bietet Menschen mit Multipler Sklerose viele Chancen. Sie lindert Symptome, fördert die Selbstständigkeit und stärkt die Bewegungsfreiheit. Erfahrene Therapeuten führen Gespräche mit Patienten, ermitteln deren Leistungsfähigkeit und passen die Trainingsinhalte dem individuellen Bedarf an.

Viele Menschen mit Multipler Sklerose entscheiden sich erst nach etlichen Jahren zur Teilnahme an einer Rehabilitation. Professor Peter Rieckmann kennt die Vorbehalte und Ängste von Patienten. Dennoch ermutigt er sie, möglichst früh eine Fachklinik aufzusuchen. Wer sich direkt nach der Diagnose eine Auszeit gönnt, kann das Leben mit MS so planen, dass es sich positiv darstellt, sagt der Chefarzt des Zentrums für klinische Neuroplastizität im Medical Park Loipl im bayerischen Bischofswiesen. MS sei zwar nicht heilbar. Wir dürfen aber nicht außer Acht lassen, dass die meisten Patienten noch Pläne für ihr Leben haben und es ist unsere Aufgabe als Neurologen, ihnen zu helfen, diese Pläne umsetzen zu können, ergänzt Rieckmann. Ein großer Vorteil des stationären Aufenthalts in einer Reha-Klinik sei, dass erfahrene Ärzte und Therapeuten genügend Zeit für die ausführliche Beratung der Patienten hätten, um ihnen die Anpassung an einen Alltag mit MS zu erleichtern, sagt Rieckmann. Dazu gehörten nicht nur Informationen über die Krankheit, sondern auch die Sozialberatung für Probleme in Beruf und Familie, Ernährungstipps und ein spezielles Sportprogramm.

Sport ist wichtig

Das Programm einer Reha ändert sich im Verlauf der Erkrankung, aber Sport spielt immer eine wichtige Rolle. Wenn beispielsweise nach einem Schub funktionelle Beeinträchtigungen auftreten, lassen sich diese häufig durch regelmäßiges Training zurückdrängen, sagt Rieckmann. Egal wie hochgradig die Einschränkung sei, ein regelmäßiges Ausdauertraining mit häufigen Wiederholungen der Übungen sei immer ratsam. Rollstuhlfahrer könnten beispielsweise ein Hanteltraining mit wenig Gewicht, aber mit hoher Frequenz absolvieren.

Der Chefarzt empfiehlt allen Patienten, sich eine Musik auszuwählen, die sie besonders motiviert. Schließlich diene der Sport nicht nur der Stärkung der Muskulatur. Aus der Forschung wissen wir, dass damit auch positive Prozesse ausgelöst werden, die die Neuroplastizität des Gehirns fördern, sagt Peter Rieckmann. So könnten häufig Einschränkungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses gemildert und die Konzentrationsfähigkeit verbessert werden, ergänzt der Spezialist für innovative Rehabilitationsstrategien. Immerhin berichte jeder vierte MS-Erkrankte über solche neurokognitiven Störungen. Auch deshalb ist eine Rehabilitation keine Kur zur Erholung, sondern der Auftakt zu einem regelmäßigen Trainingsprogramm, das zu Hause fortgesetzt werden soll. In vielen Reha-Einrichtungen haben die Patienten bei der Abreise maßgeschneiderte und leicht verständliche Anleitungen und Informationen der Therapeuten und Ärzte im Gepäck.

Beim Medical Park Loipl erhalten sie zusätzlich den digitalen Reha-Assistenten. Das ist ein kleiner Computer mit einem Trainingsprogramm für Kopf und Körper, um das häusliche Training zu unterstützen. Wir wollen erreichen, dass unsere Patienten auch im heimischen Umfeld Eigenverantwortung für mehr Lebensqualität übernehmen, sagt Rieckmann. Sich bei MS allein auf die Hilfe durch Medikamente zu verlassen, sei schlichtweg falsch.

Regelmäßig in die Reha

Aktuelle Zahlen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) zeigen, dass mehr als die Hälfte der MS-Erkrankten vor dem Erreichen der Altersgrenze erwerbsunfähig berentet werden. Regelmäßig in Anspruch genommene ambulante und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen können einer Frühverrentung entgegenwirken und ein längeres Verbleiben im Berufsleben ermöglichen, sagt Herbert Temmes, Bundesgeschäftsführer der DMSG. Forscher könnten belegen, dass die Therapie den Langzeitverlauf von Multiple Sklerose günstig beeinflusse. Dennoch werde der richtige Zeitpunkt für die Teilnahme an einer Rehabilitation von den Betroffenen oft falsch eingeschätzt. Einige MS-Patienten kämen erst, wenn die Erkrankung einen chronischen Verlauf nehme und sich die körperlichen Funktionen trotz ambulanter Therapien konstant verschlechterten. Die DMSG empfiehlt daher, das Angebot der Kliniken regelmäßig zu nutzen, am besten sogar jedes Jahr.

Allerdings unterstützen und motivieren einige niedergelassene Ärzte ihre MS-Patienten beim Thema Rehabilitation nicht genug, so die Erfahrung der DMSG. Teilweise sei den Ärzten das Antragsverfahren zu umständlich oder sie hielten die Maßnahme für nicht geeignet oder nicht sinnvoll, berichtet Temmes. Die DMSG bietet nicht nur in diesen Fällen Hilfe an, sondern auch dann, wenn die Rehamaßnahme von den Krankenkassen abgelehnt wird.

Motivation für zu Hause

Während der Rehabilitation arbeiten idealerweise Experten vieler Fachrichtungen eng zusammen: Ein Therapeutenteam besteht in der Regel aus Neurologen, Neuropsychologen und Psychotherapeuten, Physio- und Sporttherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden sowie speziell geschultem Pflegepersonal. Das Team leistet mehr als nur die Durchführung der Therapie. Es geht auch darum, die Patienten zu motivieren, sodass sie dauerhaft mitarbeiten, sagt Professor Rieckmann. Er weist darauf hin, dass viele Übungen, die die Patienten während der Rehabilitation kennenlernen, später auch unter Anleitung von ambulanten Therapeuten praktiziert werden können.

Ist die Erkrankung weiter fortgeschritten und leiden die Patienten bereits unter größeren Einschränkungen, suchen Reha-Experten nach dem Potential, das noch zur Verfügung steht. Wir haben dafür eine spezielle Kombination vielseitiger Tests entwickelt und gemeinsam mit der Technischen Universität München wissenschaftlich abgesichert, sagt Rieckmann. Damit könne das Reha-Team zu Beginn der Rehabilitationsmaßnahme genau herausfinden, in welchem Ausmaß Behandlungsbedarf besteht. Dazu gehören Patientengespräche, aber auch die Untersuchung motorischer Einschränkungen etwa beim Stehen auf einem Bein oder beim Hüpfen.

Sensomotorische Tests kann der Betroffene auf einem Smartphone absolvieren. Er tippt mit dem Finger auf ein nur kurz erscheinendes Symbol oder folgt einer Bewegung auf dem Display. Auch für die Bewertung des Gangbildes nutzen die Therapeuten ein Mobiltelefon. Das in Brusthöhe befestigte Gerät verfolgt beispielsweise, ob der Patient beim Gehen schwankt und somit sturzgefährdet ist und wie synchron er die Arme beim Laufen mitbewegt. Die Einführung von digitalen Erfassungsmethoden – wir nutzen häufig die Sensoren von Smartphones – hat entscheidend zur Verbesserung von Reha-Maßnahmen beigetragen, sagt Rieckmann.

In der Analysephase gewinnen die Experten Erkenntnisse, wie sie den Patienten am besten helfen können. Die Therapeuten verfügen gleich bei der ersten Behandlung über alle notwendigen Informationen und können das Training unverzüglich an die individuellen Bedürfnisse anpassen. Wir können häufig eingreifen, bevor eine latente, im Alltag zunächst kaum merkliche Beeinträchtigung sich stärker auswirkt, berichtet Rieckmann. Zudem kann der Betroffene verfolgen, welche Verbesserungen er in einzelnen Bereichen schon erreicht hat. Objektiv messbare Parameter helfen bei der eigenen Motivierung, sagt der Chefarzt.

Aktiv auch mit MS

Je nach Erfordernis kann ein Schwerpunkt der Rehabilitation die Verbesserung der Mobilität sein. Im Medical Park Loipl hat Professor Rieckmann mit seinem Team die Trainingseffekte bei Patienten in unterschiedlichen Phasen der Erkrankung im Alter zwischen 26 und 72 Jahren in einer Studie untersucht. Im Schnitt konnten die Teilnehmer nach 16 Tagen Training mit Physiotherapeuten an einem Laufband eine Strecke von zehn Metern etwa 15 Prozent schneller zurücklegen als zu Beginn der Reha. Auch im kleinen Ausdauertest, beim Sechs-Minuten-Gehen, verbesserten sich die Werte im Schnitt um 15 Prozent. Auf der Grundlage solcher und ähnlicher Studien lassen sich die Therapien kontinuierlich verbessern.

Viele Beispiele zeigen, dass auch mit einer MS-Erkrankung herausragende Leistungen möglich sind. Der deutsche Radrennfahrer Andreas Schmelzer startete beispielsweise als Extremsportler mit dem Mountainbike bei 24-Stunden-Rennen. Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, erhielt 1995 die Diagnose MS und ist seither unentwegt als Spitzenpolitikerin tätig. Diese Vorbilder dienen vielen Patienten als Ansporn – auch in der Rehabilitation. rk