Polyneuropathien: Zusammen sind wir viele
Es gibt Tausende seltene Erkrankungen, von denen manche nur bei drei, vier Menschen weltweit vorkommen. Früher wurden diese Krankheiten von der Medizin vernachlässigt. Das hat sich zum Glück geändert, wie die Entwicklung in Deutschland zeigt.
Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, kleine Ungeschicklichkeiten beim Bewegen – es sind zunächst unspezifische Symptome, mit denen die junge Patientin sich an ihre Hausärztin wendet. Hinter ihren Beschwerden können sehr viele Ursachen stecken, das ahnt die berufstätige Mutter von zwei kleinen Kindern. Ihre Ärztin klärt zunächst gängige Krankheitsbilder ab, findet aber nichts. Also schickt sie ihre Patientin zum Facharzt. Der bietet sein gesamtes diagnostisches Arsenal auf, doch die Ursache bleibt verborgen. Es folgen Überweisungen an eine niedergelassene Spezialistin und in eine Fachklinik, beide Male ohne Erfolg. Die Krankenakte der Patientin schwillt an, es kommt zu Bewusstseinsstörungen und Gangunsicherheiten – und doch kann kein Arzt genau sagen, was mit ihr los ist. Irgendwann fragt sich die junge Frau ernsthaft, ob sie noch richtig tickt. Vielleicht bildet sie sich ja alles nur ein?
An diesen Punkt kommen viele Menschen mit seltenen Erkrankungen, die jahrelang ohne richtigen Befund durch das Gesundheitssystem irrlichtern. »Sie geraten leicht in die Psycho-Ecke, auch wenn ihre Beschwerden durchaus organische Ursachen haben«, sagt Dr. Lena Zeltner, Ärztliche Koordinatorin im Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) der Universitätsklinik Tübingen – einem dem ersten seiner Art in Deutschland. Zeltners Schreibtisch war es schließlich, auf dem die Aktenberge der Patientin mit den unspezifischen Symptomen landeten. Weil das Beschwerdeprofil eine seltene Krankheit vermuten ließ, erhielt die junge Frau eine Einladung in die klinikeigene Spezialsprechstunde für ungesicherte Diagnosen. Es folgte eine umfassende Diagnostik mit Gentests, Laboruntersuchungen, Hirnwasser-Analysen und bildgebenden Verfahren. Irgendwann stand der Befund fest: Die Patientin leidet unter einer autoimmunen Enzephalitis, einer seltenen neurologischen Erkrankung. »Sie war sehr erleichtert, als sie die Ursache ihrer Beschwerden erfuhr«, erinnert sich die 38-jährige Lena Zeltner und fügt hinzu: »Auch wenn wir bisher nur wenige Menschen mit seltenen Erkrankungen heilen können – ihre Diagnose zu kennen, ist für die Betroffenen unheimlich wichtig.«
Meistens liegt es an den Genen
Eine Diagnose gibt der Krankheit ein Gesicht und Betroffenen Orientierung. Endlich weiß man, was man zu tun hat. Seltene Erkrankungen haben viele Gesichter. Zu den bekanntesten zählen die Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose oder auch die erbliche Hirnkrankheit Morbus Huntington; weniger geläufig sind Nervenkrankheiten wie die Spinale Muskelatrophie (SMA) oder das Stiff-Person-Syndrom. Insgesamt zählt die Spezial-Datenbank Orphanet rund achttausend verschiedene seltene Erkrankungen, von denen die allermeisten genetisch verursacht sind. Jede einzelne von ihnen betrifft höchstens fünf von zehntausend Menschen – so ist die Bezeichnung »selten« in Europa definiert. Es gibt auch ultra-seltene Krankheiten, die unter hunderttausend Menschen nur eine einzige Person treffen und manche kommen sogar nur drei, vier Mal auf der ganzen Welt vor. Meistens beginnen seltene Erkrankungen in der Kindheit und nehmen dann einen chronischen Verlauf.
Zusammen betrachtet sind seltene Krankheiten gar nicht so selten: In Deutschland leiden rund vier Millionen Menschen an einer Variante, in Europa sind es immerhin 30 Millionen. Sehr viele »Seltene« haben auch eine neurologische Komponente. Und viele dieser Krankheiten ziehen Gehirn und Nervensystem so stark in Mitleidenschaft, dass man ausdrücklich von seltenen neurologischen Erkrankungen spricht.
Es hat sich viel getan
Lange galten seltene Erkrankungen als Waisenkinder der Medizin, systematisch vernachlässigt in Diagnostik, Therapie, Forschung und Öffentlichkeit. Das hat sich gründlich geändert. Viele Menschen kennen den Begriff aus den Medien: Die greifen das Thema regelmäßig anlässlich des Internationalen Tags der seltenen Erkrankungen am letzten Februartag auf. Es gibt Fotoausstellungen und alljährlich ein International Rare Disease Film Festival, weltweit finden Fachtagungen statt und auch die Politik engagiert sich seit zwei Jahrzehnten nach Kräften. Moderne Genforschung und Bildgebungstechnik haben der Diagnostik auf die Sprünge geholfen. Im Gefolge der seit 2000 geltenden europäischen Verordnung zu Arzneimitteln für die Behandlung seltener Krankheiten (englisch: Orphan Drugs) stehen in der EU derzeit 128 Orphan-Medikamente zur Verfügung, wie der Verband forschender Arzneimittelhersteller mitteilt. Auf dem Markt sind auch schon erste Medikamente mit heilender Wirkung. Und seit 2010 gilt in Deutschland ein Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE). Landauf, landab wurden überwiegend universitäre Zentren für seltene Erkrankungen geschaffen, die auch Menschen mit noch ungeklärter Diagnose offenstehen. Aktuell beläuft sich deren Zahl auf 38, wie aus dem SE-Atlas hervorgeht, einer Datenbank mit Informationen über die Versorgungseinrichtungen für seltene Erkrankungen in Deutschland.
Dass es einen Aufwärtstrend im Bereich seltener Krankheiten gibt, ist unverkennbar. Und doch bleiben Defizite. So besteht derzeit nur für einen kleinen Teil der Menschen mit seltenen Erkrankungen Aussicht auf Heilung. Hochwirksame Arzneimittel, die an den Krankheitswurzeln ansetzen, sind rar und noch extrem teuer. So kostet das Gentherapeutikum Zolgensma gegen die Muskelschwundkrankheit SMA aktuell rund 1,9 Millionen Euro.
Weitere Schwachstellen: Über eine gesicherte Diagnose verfügt nur etwa die Hälfte der Patienten und im Durchschnitt vergehen fünf Jahre, bis die Diagnose steht. Zahlreiche Betroffene müssen jedoch deutlich länger auf den richtigen Namen für ihre Beschwerden warten. Sie pendeln frustriert zwischen den Sektoren unseres Gesundheitssystems, den niedergelassenen Ärzten und den Kliniken.
Mit Bergen von Unterlagen
»Die Sektorengrenze ist unser dickstes Brett«, sagt Alexander Münchau, Neurologieprofessor am Lübecker Standort des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und Sprecher des dortigen Zentrums für Seltene Erkrankungen. Zusammen mit seinem Team ist der 55-Jährige dabei, den Kontakt zu niedergelassenen Fachärzten und Allgemeinmedizinern in den Regionen Lübeck und Kiel zu intensivieren und sie einzubeziehen in die Betreuung von Patienten. Pro Jahr seien es etwa 2.500 Menschen, die teils mit einer Überweisung, teils auf eigene Initiative Hilfe im Zentrum suchten, berichtet der Neurologe. Die meisten Anfragen gelangen, so wie in anderen Zentren für seltene Erkrankungen auch, zunächst in ein koordinierendes A-Zentrum und werden von dort an Spezialambulanzen, die sogenannten B-Zentren, weitergeleitet. »Manche Patienten kommen mit Bergen von Unterlagen, die wir erstmal sichten, um dann genau zu überlegen, was an weiterer Diagnostik nötig ist«, berichtet Münchau.
Wer sich dann in einer der Spezialsprechstunden vorstellt, wird um sein Einverständnis für eine Videoaufnahme der charakteristischen Symptome gebeten. Sie werden bei Fallkonferenzen gezeigt, damit sich die versammelten Fachmediziner ein erstes Bild machen können. Bei Bedarf schalte man Experten aus anderen Zentren für seltene Erkrankungen in Deutschland oder Europa dazu, berichtet Münchau. Sehr hilfreich seien auch die monatlichen Videokonferenzen und Jahressymposien der Deutschen Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen.
Bei etwa der Hälfte der Ratsuchenden können die Lübecker Ärzte binnen eines halben Jahres eine fundierte Diagnose stellen. »Die anderen schicken wir aber nicht einfach weg. Wir betreuen sie weiter und sagen ihnen genau, an wen sie sich wenden können und was als Nächstes dran ist«, sagt Alexander Münchau. Da sich sehr viel auf dem Gebiet tue, könne vielleicht schon bald ein gesicherter Befund gestellt werden. Heilung sei bisher zwar nur in wenigen Fällen möglich, räumt der Lübecker Neurologe ein. »Allerdings können wir die Lebensqualität vieler Patienten mithilfe symptomorientierter Behandlungen auch jetzt schon deutlich verbessern.«
Digitalisierung eröffnet neue Chancen
Zuhören können, sich einfühlen und sorgfältige körperliche Untersuchungen – Professor Lorenz Grigull setzt auf klassische ärztliche Tugenden in der Versorgung von jungen Menschen ohne Diagnose. »Wir verstehen uns als Hausärzte für Familien mit Kindern, die sich krank fühlen und bei denen es einen Verdacht auf eine seltene Erkrankung gibt«, sagt der 54-jährige Pädiater, der das Bonner Zentrum für Seltene Erkrankungen leitet. Rund tausend Anfragen seien jährlich zu bearbeiten, berichtet Grigull, darunter sehr viele mit neurologischem Fokus. Wie in allen Zentren bundesweit sind auch in Bonn ganze Wäschekörbe voller Akten zu sichten, um die Fallkonferenzen vorzubereiten. »Das machen bei uns Medizinstudierende«, berichtet Grigull, »sie lernen viel und verdienen etwas dabei – und für unser Team ist ihre Arbeit eine Riesenentlastung.«
Mitmachen kann der medizinische Nachwuchs auch bei den Forschungsvorhaben, mit denen der Pädiatrieprofessor die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranbringen möchte. »Gerade unser Bereich kann enorm von künstlicher Intelligenz und großen internationalen Datenbanken profitieren«, davon ist Grigull überzeugt. In einem seiner Projekte werden Fragebögen, die Patienten mit neuromuskulären Beschwerden zuvor anonym ausfüllten, mit denen in großen Datenbanken verglichen. »Mit diesem Instrument hoffen wir, rasch erste Hinweise auf die Ursachen von Beschwerden zu erhalten, den Weg zur Diagnose zu erleichtern und seltene Erkrankungen besser zu verstehen«, sagt Grigull und weist im nächsten Atemzug auf weitere Digitalprojekte hin. Zum Beispiel auf eine ärztlich moderierte Social-Media-Plattform, über die Patienten, Mediziner und Pflegekräfte künftig miteinander ins Gespräch kommen sollen. »Programmiert hat das eine Doktorandin, das wird eine tolle Sache.«
Wo die Fäden zusammenlaufen
Auch Dr. Christine Mundlos ist überzeugt vom Nutzen digitaler Techniken für Patienten mit seltenen Erkrankungen. »Wir hoffen sehr auf die elektronische Patientenakte und auf gesetzliche Regelungen, die uns endlich zuverlässige Daten über die Zahl der Betroffenen und deren Versorgung liefern, auch auf europäischer Ebene«, sagt die Berliner Ärztin. Bei ACHSE, der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, ist sie seit 2008 zuständig für die Beratung von Medizinern und Wissenschaftler. Der in Berlin angesiedelte Dachverband von gut 130 Selbsthilfegruppen finanziert sich durch Spenden und selbst eingeworbene Projektmittel. Um Anfragen von Patienten kümmert sich eine Kollegin, doch bei Bedarf springt Christine Mundlos auch hier ein. »Wenn Wissenschaftler sich an uns wenden – und das ist oft der Fall –, dann meist, weil sie auch die Patientensicht in ihren Projekten berücksichtigen wollen«, sagt die Ärztin und fügt hinzu: »Bei uns laufen viele Fäden zusammen, wir sind die Spinne im Netz.«
Dass dieses Netz in Deutschland immer dichter wird, geht nach Überzeugung von Mundlos vor allem auf den Druck von Patienten und hochprofessionellen Selbsthilfegruppen zurück: »Ohne aktive Patientenvertretung gäbe es kein Nationales Aktionsbündnis und keinen Nationalen Aktionsplan.« Positiv bewertet Mundlos auch das bessere Miteinander der deutschen Zentren für seltene Erkrankungen, die ihre Qualität neuerdings durch eine Zertifizierung nachweisen können. Die Forschung zu seltenen Erkrankungen profitiere einerseits von guter Förderung mit Bundesmitteln, sagt die ACHSE-Vertreterin, werde jedoch, etwa im Bereich klinischer Studien, häufig durch bürokratische Vorschriften behindert.
Eine erlöste Familie
Die Ärztin Lena Zeltner arbeitet nicht nur als Koordinatorin im großen Tübinger Zentrum für Seltene Erkrankungen, sie unterstützt auch ihre wissenschaftlich arbeitenden Kollegen am Klinikum. Deren Interesse gilt häufig den krankheitsverursachenden Mechanismen im molekularen Detail. Von solchen Erkenntnissen profitiere die gesamte Medizin, sagt Zeltner – also für seltene und häufige Krankheiten gleichermaßen. »Sobald wir diese Pathomechanismen kennen, werden wir immer häufiger feststellen, dass sich viele seltene Erkrankungen auch mit gängigen Arzneimitteln gezielt behandeln lassen.«
Wie zum Beispiel bei der Familie mit dem schlimmen Schmerzsyndrom, an dem schon Großmutter und Vater gelitten hatten und das nun auch die kleine Enkeltochter quälte. Die Schmerzen gingen, das zeigten die Untersuchungen im Tübinger Zentrum für Seltene Erkrankungen, auf einen raren Gendefekt zurück, der zu einer Blockade des Natriumstoffwechsels im Körper führte. Lena Zeltner: »Das kennen wir von der Epilepsie und tatsächlich konnten wir das Kind mit einem bewährten Antiepileptikum von seinen Schmerzen befreien.« Die Familie sei nun sehr erleichtert, ihr Bann gebrochen – und genau darin sieht die junge Ärztin ein Hoffnungszeichen für die Zukunft.