Polyneuropathien: Angriff auf die Sternzellen

Oft dauert es lange, bis Patienten mit NMOSD die richtige Diagnose erhalten. Dabei ist gerade bei dieser Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems eine rasche und konsequente Behandlung sehr wichtig. Professor Orhan Aktas erläutert, woran man die Krankheit erkennt und welche Therapien für sie zur Verfügung stehen.

Herr Professor Aktas, was passiert bei NMOSD im Körper?

Man kann sich die Erkrankung wie eine Art Allergie vorstellen. Allerdings richtet sich das Immunsystem dabei nicht gegen Stoffe von außen, wie zum Beispiel Pollen oder Nüsse, sondern gegen den eigenen Körper, konkret gegen das eigene Nervensystem. Insbesondere das Rückenmark und der Sehnerv werden von der Körperabwehr attackiert. Daraus leitet sich auch der Name der Erkrankung ab: NMOSD steht für die englische Bezeichnung »Neuromyelitis Optica Spectrum Disorders«, auf Deutsch »Neuromyelitis-Optica-Spektrum-Erkrankungen«. Eine Myelitis ist eine Entzündung des Rückenmarks. Der Begriff Optica deutet auf die Beteiligung des Nervus opticus, also des Sehnervs, hin, der eine Ausstülpung des Gehirns ist. Das Wort Spektrum verweist darauf, dass auch andere Teile des Gehirns von der Erkrankung betroffen sein können.

Zu welchen Symptomen kann es durch die fehlgeleitete Körperabwehr kommen?

Die vom Immunsystem gebildeten Antikörper attackieren vor allem die Wasserkanäle des Gehirns, die Flüssigkeit in das Organ hinein- und wieder heraustransportieren. Sie sind auf den großen Sternzellen, den Astrozyten, angesiedelt und werden auch Aquaporine, kurz AQP, genannt. Auf sie komme ich später noch zu sprechen, da sie sowohl für die Diagnose als auch für die Therapie der NMOSD eine wichtige Rolle spielen. Doch zunächst zu den Symptomen: Sind die Zellen des Sehnervs das Ziel der Körperabwehr, kommt es meist sehr rasch zu Sehstörungen, die manchmal innerhalb von ein, zwei Tagen zu völliger Blindheit führen. Entzündet sich durch den Angriff der Antikörper das Rückenmark, leiden die Patienten – je nachdem, wo genau die Entzündung sitzt – an Lähmungen in beiden Beinen oder in beiden Beinen und Armen. Ist das Zwischenhirn betroffen, kann es auch zu anhaltendem Schluckauf, permanenter Übelkeit oder zu Essstörungen wie einer Brechsucht kommen.

Wie lässt sich die Erkrankung diagnostizieren?

Als erstes werden die Patienten – rund 90 Prozent von ihnen sind übrigens Frauen – neurologisch untersucht. Anschließend sollte man im MRT Bilder des Gehirns und des Rückenmarks erstellen, um Entzündungsherde aufzuspüren und genauer zu charakterisieren. Schließlich wird im Blut noch nach Antikörpern gegen das Protein Aquaporin 4, kurz AQP4, gefahndet, die bei etwa acht von zehn Patienten nachweisbar sind. Stößt man auf diese Antikörper, ist die Diagnose NMOSD eindeutig. Tut man es nicht, wird die Sache etwas kniffeliger.

Wie lässt sich die NMOSD von der Multiplen Sklerose abgrenzen?

Am einfachsten durch den Nachweis der AQP4-Antikörper. Fehlen sie, können die MRT-Bilder Aufschluss geben: Charakteristisch für NMOSD sind größere, zusammenhängende Entzündungsherde vor allem im Rückenmark und in den Sehnerven. Bei der MS finden sich eher viele kleine Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark. Auch eine Untersuchung des Nervenwassers auf Zellen und Eiweiße kann Aufschluss geben. Darüber hinaus sind die Schübe der NMOSD fast immer deutlich schwerer als die der MS und hinterlassen meist bleibende Behinderungen. Vor allem die Entzündungen des Rückenmarks reagieren zudem nicht so gut auf eine Therapie mit Kortison.

Warum dauert es oft trotzdem so lange, bis die exakte Diagnose feststeht?

Das hat viele Gründe. Manche Patienten suchen aufgrund ihrer Beschwerden vielleicht zunächst einen Augenarzt oder Orthopäden auf. Ein Symptom wie die schnell schwindende Sehkraft lässt selbst einen Neurologen womöglich als Erstes an einen rasch wachsenden Gehirntumor denken. Und einige seltene Folgen der NMOSD wie beispielsweise unstillbares Erbrechen können Ärzte zunächst auch völlig in die Irre führen. Die Patienten landen dann vielleicht eher in der Psychiatrie als in der Neurologie, wo sie natürlich hingehören. Bis vor etwa 15 Jahren dachte man außerdem, dass NMOSD eine Unterform der MS seien. Dass es sich um eine eigenständige Erkrankung handelt, die auch anders behandelt werden muss, wissen manche niedergelassene Mediziner womöglich noch gar nicht. Und so beginnt für viele Patienten eine oft lange Odyssee von Arzt zu Arzt.

Wie viele Menschen in Deutschland leiden geschätzt an NMOSD? Und wie viele an MS?

Wir gehen momentan von rund 3.000 Patienten mit NMOSD aus. An MS sind fast hundertmal so viele erkrankt.

Wodurch unterscheiden sich die verschiedenen Formen der NMOSD?

Bei manchen Patienten entzündet sich nur der Sehnerv, bei manchen nur das Rückenmark und bei einigen wenigen auch nur das Zwischenhirn. Zum Teil finden wir die Entzündungen in zwei, manchmal auch in allen drei Strukturen. Hinzu kommt wie gesagt, dass nur etwa 80 Prozent aller NMOSD-Patienten AQP4-Antikörper aufweisen.

Werden die verschiedenen Formen auch unterschiedlich therapiert?

Im Prinzip nicht. Doch in jedem Fall müssen NMOSD anders behandelt werden als eine Multiple Sklerose. Einige MS-Medikamente zeigen bei NMOSD keine Wirkung. Und manche schaden sogar mehr, als dass sie nutzen.

Wie lassen sich NMOSD am besten behandeln?

Momentan stehen uns drei Medikamente zur Verfügung, die alle langfristig eingenommen werden müssen und an verschiedenen Stellen in den entzündlichen Prozess eingreifen. Das erste speziell für NMOSD zugelassene Medikament, Eculizumab, ist seit zwei Jahren auf dem Markt. Es bewahrt die Astrozyten vor dem Angriff der Antikörper, indem es ein bestimmtes Hilfsprotein, das Komplement, blockiert, das für die Attacke benötigt wird. Somit stellt es eine Art Schutzweste für die Sternzellen dar. Vor wenigen Monaten wurde ein zweites Medikament, Satralizumab, zugelassen. Dieser Wirkstoff bremst die Aktivität der Antikörper produzierenden B-Zellen und verursacht so quasi eine Ladehemmung des Immunsystems. Nicht für NMOSD zugelassen ist der schon seit Langem verfügbare Wirkstoff Rituximab, der die B-Zellen zerstört. Er wird bislang off-label verordnet. Ein sehr ähnlich wirkendes, aber bei NMOSD wahrscheinlich noch effektiveres Medikament ist Inebilizumab, das unter anderem in den USA schon verfügbar ist und – nach günstiger Beurteilung durch die europäische Arzneimittelbehörde – auch hierzulande vermutlich sehr bald auf den Markt kommen wird.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es darüber hinaus bei einem akuten Schub?

Eine akute Attacke behandeln wir mit hoch dosiertem Kortison und meist auch mit einer Blutwäsche, bei der die Antikörper und auch das Komplement aus dem Blut entfernt werden. Da viele Patienten unbehandelt bereits nach einer Attacke einseitig blind sind oder im Rollstuhl sitzen, ist rasches und drastisches Handeln unbedingt erforderlich.

Welche Erfolge können sich die Patienten von den Behandlungsmaßnahmen versprechen?

Vorbeugend können wir eine Menge tun. Deswegen ist es so entscheidend, die Entzündungen so rasch wie möglich zu stoppen. Ist das Nervensystem erst einmal geschädigt, kann es sich hingegen nur sehr langsam und niemals vollständig regenerieren.

Was können Betroffene sonst noch tun, um den Verlauf ihrer Erkrankung möglichst positiv zu beeinflussen?

Am wichtigsten ist es, all das zu vermeiden, was das Nervensystem zusätzlich stresst. Oder, um es positiv auszudrücken, all das zu tun, was ihm guttut – auch indirekt. Dazu gehört vor allem, sich viel zu bewegen, sich möglichst gesund und abwechslungsreich zu ernähren, Übergewicht abzubauen und aufs Rauchen oder größere Mengen Alkohol am besten zu verzichten.