Psyche: Wenn sich der Akku nicht mehr laden lässt
Mehr als 300.000 Menschen in Deutschland leiden am Chronischen Fatigue-Syndrom, kurz CFS genannt. Sie fühlen sich ständig müde und
hochgradig erschöpft – selbst wenn sie viele Pausen einlegen und ausreichend schlafen. Oft entsteht die Erkrankung als Folge einer viralen Infektion. Auch das Coronavirus hat das Potenzial, sie hervorzurufen.
Fatigue – das französische Wort verrät bereits, worum es geht. Übersetzt bedeutet es sowohl Müdigkeit als auch Erschöpfung. Wer an Fatigue leidet, dem kommt es vor, als sei sein Akku permanent leer. Selbst kleinste Anstrengungen führen dazu, dass die Betroffenen sich tief erschöpft fühlen, zu schwach, um ihren Alltag auch nur ansatzweise zu bewältigen. Und selbst eine Nacht, in der sie gut geschlafen haben, schafft es in aller Regel nicht, den Akku wieder zu laden. Stattdessen bleiben die Beschwerden noch tagelang bestehen.
Die genauen Ursachen sind noch unklar
Lange Zeit war die Erkrankung weitgehend unbekannt. Zwar kannte man Fatigue als Begleitsymptom der Multiplen Sklerose (siehe Seite 9), bei Krebs oder Herzschwäche. Doch ein klassisches CFS wurde vermutlich sehr viel seltener festgestellt, als es tatsächlich vorhanden war. Stattdessen wurden zahlreiche Patienten vom Arzt mit der Diagnose Depression oder Burn-out nach Hause geschickt – oder schlicht als nicht belastbar angesehen.
Die Coronapandemie ist in Begriff, das zu ändern. »Etwa 10 bis 20 Prozent aller Covid-19-Patienten leiden nach ihrer Akuterkrankung anhaltend an Fatigue, bei der selbst geringe Anstrengungen, seien sie geistiger oder körperlicher Art, die Beschwerden verschlimmern«, sagt Dr. Judith Bellmann-Strobl, Oberärztin an der Hochschulambulanz für Neuroimmunologie in Berlin. »Allerdings bessern sich die Symptome nach einer Coronainfektion bei den meisten Betroffenen im Laufe einiger Monate – nur bei einem geringen Anteil entwickelt sich daraus ein Chronisches Fatigue-Syndrom, das womöglich mitunter ein Leben lang besteht.«
Die genauen Ursachen der Erkrankung sind bis heute nicht verstanden. »Man weiß, dass sie sich in etwa zwei Drittel der Fälle nach einer Virusinfektion bemerkbar macht«, sagt Bellmann-Strobl. Neben dem Coronavirus ist unter anderem das Eppstein-Barr-Virus ein häufiger Auslöser des CFS. Dieser Erreger aus der Familie der Herpesviren kann zum Pfeifferschen Drüsenfieber führen und ist einer aktuellen US-Studie zufolge auch einer der möglichen Faktoren, durch die Multiple Sklerose entstehen kann. Doch nicht nur Viren rufen das CFS hervor. Nach besonders belastenden Ereignissen, zum Beispiel schweren Unfällen oder Operationen, kann es ebenfalls zu der Krankheit kommen. Und manchmal lässt sich gar kein Anlass für sie ausmachen.
Mehrere Wirkstoffe werden derzeit getestet
Auch wenn sich manche Dinge nicht beeinflussen lassen, ganz ausgeliefert ist man dem Geschehen nicht. So ist es von Vorteil, sich direkt nach der Diagnose möglichst umfassend über die eigene Erkrankung und ihre Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. Mythen und Ängste lassen sich dann schnell aus dem Weg räumen: So stimmt es einfach nicht, dass jeder mit MS im Rollstuhl landet oder man als Frau nicht mehr schwanger werden darf. Umfangreiche, zuverlässige und aktuelle Informationen stellt unter anderem der Bundesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft zur Verfügung. Die Landesverbände der MS-Gesellschaft bieten persönliche Beratung an und gehen auf private, berufliche, rechtliche und medizinische Fragen ein. Über die Verbände kann man auch einer der zahlreichen Selbsthilfegruppen beitreten und sich mit anderen MS-Betroffenen austauschen. Dazu eignen sich auch diverse Internetforen und -plattformen: Gerade junge MS-Erkrankte berichten dort sehr offen aus ihrem Leben mit der Erkrankung. ak
Gesichert scheint zu sein, dass das Immunsystem eine zentrale Rolle bei ihrer Entstehung einnimmt. »Wir gehen mittlerweile davon aus, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt, die zu einer gestörten Regulation des Immun-, Nerven- und Gefäßsystems führt und so unter anderem eine verminderte Durchblutung von Organen verursacht«, sagt die Neuroimmunologin Bellmann-Strobl. Studien haben zudem gezeigt, dass CFS-Erkrankte oft einen gestörten Energiestoffwechsel aufweisen, der in vielerlei Hinsicht dem Metabolismus von Tieren im Winterschlaf ähnelt.
Eine zielgerichtete Behandlung für die CFS gibt es, da über ihre Gründe so wenig bekannt ist, bislang nicht. »Manche Patienten profitieren von einer hochdosierten antientzündlichen Therapie«, sagt Bellmann-Strobl. »Bei anderen können Medikamente und sonstige Verfahren, die die Durchblutung verbessern, die Beschwerden lindern.« Dank Corona wurden inzwischen mehrere Patientenstudien gestartet, in denen ganz unterschiedliche Wirkstoffe zur Behandlung des Fatigue-Syndroms getestet werden. Doch die Betroffenen können noch mehr tun, als nur auf wirksame Medikamente zu warten.
Oft helfen Verfahren zur Stressreduktion
»Zunächst einmal ist es wichtig, dass sie ihre Krankheit verstehen und insbesondere lernen, sowohl körperliche als auch psychische Überanstrengungen zu vermeiden, damit es nicht zu einer Verschlechterung der Symptome kommt«, sagt Bellmann-Strobl. Das heißt allerdings nicht, dass die Patienten nur noch im Bett liegen müssen. »Sie sollten stattdessen herausfinden, welche Aktivitäten in welchem Umfang ihnen noch möglich sind, und in diesem Rahmen aktiv bleiben«, rät die Medizinerin. Oft sind es auch ganz bestimmte – für gesunde Menschen völlig harmlose – Ereignisse, die eine oft mehrere Tage anhaltende Verschlimmerung der Beschwerden nach sich ziehen. »Wer solche Ereignisse kennt, sollte sie natürlich so gut es geht vermeiden«, empfiehlt Bellmann-Strobl.
Vielen Betroffenen hilft es zudem, Techniken zur Stressreduktion, etwa autogenes Training, zu erlernen. Und für manche Patienten kann es durchaus sinnvoll sein, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. »Denn natürlich ist es eine große Belastung für die Psyche, plötzlich so schwer zu erkranken, dass ein Alltag wie früher nicht einmal mehr denkbar ist«, sagt die Ärztin.
Hinzu kommt, dass das Ausmaß der Beschwerden von vielen Menschen noch immer unterschätzt wird. Häufig müssen sich die Betroffenen Sätze anhören wie: »Ja, das kenne ich. Ich fühle mich auch oft so müde und ausgelaugt!« Fatigue ist für andere unsichtbar – was mitunter dazu führt, dass selbst Ärzte und Gutachter, wenn es zum Beispiel um die Anerkennung einer Erwerbsunfähigkeit geht, die Schwere der Erkrankung falsch einschätzen. Auch in solchen Fällen sollten sich die Patienten Hilfe holen.