Multiple Sklerose: Sicher ist kein Patient vor ihr

Rund drei Viertel aller MS-Erkrankten leiden an Fatigue. Die Berliner Neuroimmunologin Dr. Judith Bellmann-Strobl erläutert, wie es zu der tief empfundenen Erschöpfung kommen kann und welche Maßnahmen dabei helfen, sie zu lindern.

Frau Dr. Bellmann-Strobl, Fatigue gilt als eines der häufigsten Symptome bei Multipler Sklerose. Weiß man, warum das so ist und wie das Krankheitsmerkmal entsteht?

Fatigue ist nicht nur eines der häufigsten MS-Symptome, sondern auch eines, das die Patienten fast immer am meisten belastet. Wie sie entsteht, ist noch nicht im Detail verstanden. Wahrscheinlich sind mehrere Faktoren beteiligt. Eine Hypothese besagt beispielsweise, dass die MS-bedingten Läsionen im Gehirn zu einer Art Netzwerkstörung führen und daher mehr Aufwand geleistet werden muss, um eine geistige oder körperliche Aufgabe auszuführen. Eine andere Theorie geht davon aus, dass durch die chronischen Entzündungsprozesse der MS bestimmte Botenstoffe vermehrt ausgeschüttet werden, die den Körper dazu anhalten, sich stärker zu schonen.

Unterscheidet sich die Fatigue bei einer MS von der, wie man sie von Patienten nach einer Coronainfektion kennt?

Ja, es gibt einige wichtige Unterschiede. Zum Beispiel entwickelt sich die Fatigue bei einer MS eher schleichend, während sie im Zusammenhang mit Covid-19 meist ziemlich rasch entsteht. Bei der MS nimmt sie oft im Tagesverlauf und mit zunehmender Belastung zu, wird aber in der Regel nicht, wie es bei Long-Covid häufig der Fall ist, durch ganz bestimmte Überlastungen hervorgerufen. Zudem können MS-Patienten die Fatigue mit Pausen, aber auch mit regelmäßigem Bewegungstraining meist lindern. Bei Long-Covid-Patienten verhilft Ruhe vielfach nicht zu ausreichend neuer Kraft und durch übermäßige körperliche Aktivität verschlimmert sich die Erschöpfung meist noch.

Muss man im Krankheitsverlauf der MS damit rechnen, dass Fatigue als Symptom hinzukommt?

Leider ja. Sicher ist kein Patient vor ihr. Bei manchen macht sich die Fatigue sogar schon vor der MS-Diagnose bemerkbar. Bei anderen tritt sie später oder auch gar nicht auf. Das ist sehr individuell. Auch das Ausmaß der Beschwerden ist von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Generell lässt sich sagen, dass Fatigue bei den progredienten – also den kontinuierlich voranschreitenden – Formen häufiger zu finden ist als bei der schubförmigen MS.

Kennt man bestimmte Umstände, unter denen Fatigue vermehrt auftritt und die sich womöglich vermeiden lassen?

Wenn es warm ist, also vor allem im Sommer, leiden viele MS-Patienten öfter oder stärker an Fatigue als sonst. Dem kann man entgegenwirken, indem man sich bevorzugt im Schatten oder in klimatisierten Räumen aufhält oder auch spezielle Kühlkleidung trägt. Auch bei einem MS-Schub kommt es vermehrt zur Fatigue. Sie lässt sich lindern, indem man den Schub entsprechend behandelt.

Mediziner unterscheiden zwischen einer primären und sekundären Fatigue. Was sind die Unterschiede und inwieweit sind sie für die Betroffenen relevant?

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Bei der primären Form wird die Fatigue direkt der MS zugeschrieben. Die sekundäre Form geht auf Beeinträchtigungen zurück, die als Folge der MS-Erkrankung auftreten. Eine Blasenstörung und die damit verbundenen nächtlichen Toilettengänge zum Beispiel führen dazu, dass der Schlaf weniger erholsam wird. Die beiden Formen der Fatigue voneinander zu unterscheiden, ist wichtig, weil man die auslösenden Faktoren der sekundären Fatigue – etwa Schlafstörungen, Blutarmut oder Schmerzen – oft gut behandeln kann und dadurch die Fatigue verringert wird. Hierzu gibt es Leitlinien mit konkreten Therapieempfehlungen. Für die primäre Fatigue sind bislang leider keine ausreichend wirksamen Medikamente verfügbar.

Lässt sie sich mit anderen Maßnahmen lindern?

Regelmäßige Bewegung, auch im Rahmen einer Sporttherapie, kann wie gesagt helfen, die primäre Fatigue zu reduzieren. Auch mit Akupunktur hat man bereits gute Erfahrungen gemacht. In einer Verhaltenstherapie können die Patienten zudem lernen, ihren Alltag trotz der Fatigue wieder besser zu bewältigen. Dazu ist vor allem ein geregelter Tagesablauf von Vorteil, in den gezielt kleinere und größere Pausen eingebaut werden. Hierbei ist es wichtig, die eigenen Kräfte möglichst gut einzuschätzen, um sich weder zu unter- noch zu überfordern. Hilfreich sind für diesen Zweck auch spezielle Apps. Sie sind vom Arzt auf Rezept erhältlich, sodass die Krankenkassen die Kosten dafür übernehmen.