Psyche: Mehr Sicherheit für werdende und junge Mütter
Manche Medikamente gegen die Multiple Sklerose lassen sich gut mit einer Schwangerschaft und der Stillzeit vereinbaren. Andere wiederum sind in diesen Phasen des Lebens nicht ganz unbedenklich. Aktuelle Studienergebnisse gibt es jetzt zu den Wirkstoffen Natalizumab und Glatirameracetat.
Vor allem für junge Frauen ist die Diagnose Multiple Sklerose oft ein großer Schock. Erst recht, wenn sie sich noch ein Kind wünschen. Spätestens wenn sie eine Schwangerschaft planen, stellt sich die Frage, inwieweit sich die momentane Therapie fortführen lässt.
Zwar gelten manche MS-Präparate wie Interferon-beta als relativ unproblematisch. Doch es gibt auch Medikamente, die sowohl in der Schwangerschaft als auch in der Stillzeit nur eingeschränkt zugelassen sind. Sie sollten nur nach intensiver Abwägung von Nutzen und Risiko angewandt werden.
Einer dieser Arzneistoffe ist der Antikörper Natalizumab, der zu den hochwirksamen immunmodulatorischen Therapien der schubförmig verlaufenden MS gehört. Er wird als Infusion alle vier Wochen verabreicht.
Nach Absetzen von Natalizumab kommt es oft zu Schüben
Natalizumab ist hochwirksam und gut verträglich. Zugleich ist seit Längerem bekannt, dass es nach Absetzen des Medikaments bei bis zu 80 Prozent der Patienten innerhalb von vier bis sieben Monaten zu MS-Schüben kommt. Wie sich ein Therapieabbruch insbesondere bei werdenden Müttern auswirkt, hat vor Kurzem ein Forschungsteam um die Neurologin Professorin Kerstin Hellwig vom Klinikum der Ruhr-Universität Bochum untersucht. Die Ergebnisse der Studie sind in der Fachzeitschrift JAMA Network Open veröffentlicht. Das Team analysierte 274 Schwangerschaften von MS-Patientinnen, bei denen Natalizumab spätestens am Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels abgesetzt wurde. Anhand detaillierter Befragungen der Patientinnen und der Berichte der behandelnden Neurologen fanden die Mediziner heraus, dass bei 183 – also fast 67 Prozent – der Frauen MS-Schübe während der Schwangerschaft oder im ersten Jahr danach auftraten. Bei 44 Frauen waren die Schübe schwer und bei drei Probandinnen sogar lebensbedrohlich. In zehn Prozent der betrachteten Fälle war ein Jahr nach der Geburt eine relevante Behinderung der Mutter feststellbar.
Eine rasche Wiederaufnahmeder Therapie ist ratsam
Weder die Schwangerschaft noch das Stillen hatten der Studie zufolge für die Mütter einen schützenden Effekt. Frauen, die Natalizumab innerhalb der ersten vier Wochen nach der Geburt wieder erhielten, waren im ersten halben Jahr nach der Entbindung nicht besser gegen MS-Schüben gefeit als andere. Allerdings konnte eine frühe Wiederaufnahme der Therapie das Risiko von Schüben in den folgenden zwölf Monaten senken.
»Diese Ergebnisse sind bedeutend für die Abwägung, Natalizumab vor oder während einer Schwangerschaft abzusetzen«, resümiert Hellwig. Das hohe Risiko einer bleibenden Behinderung der Mutter stehe den teils unklaren Risiken für die Schwangerschaft durch die dauernde Einnahme oder den Wechsel zu einer anderen Therapie gegenüber. Diese Informationen sollten mit den Patientinnen besprochen werden, um gemeinsam zu einer fundierten Entscheidung zu kommen, sagt Hellwig.
Unter Glatirameracetat ist Stillen bedenkenlos möglich
Auch die Stillzeit ist für Mütter, die an MS erkrankt sind, meist mit der schwierigen Frage verbunden, ob sie ihre Therapie unbesorgt fortsetzen können oder damit ihrem Kind schaden. Hellwig hat deshalb eine weitere Studie vorgenommen, in der sie und ihr Team die Einnahme des Wirkstoffs Glatirameracetat bei stillenden Frauen untersuchten. Publiziert sind die Ergebnisse im Fachblatt Multiple Sclerosis Journal.
Glatirameracetat ist zur immunmodulatorischen Basistherapie der schubförmigen MS zugelassen und gehört wegen seiner gut belegten Wirksamkeit und Sicherheit zu den Therapien der ersten Wahl. Hellwig und ihre Kollegen verglichen die Entwicklung von 120 Kindern während ihrer ersten anderthalb Lebensjahre. Die eine Hälfte der Mütter hatte in der Stillzeit Glatirameracetat erhalten, die andere nicht. Die Forscher untersuchten, inwieweit die Kinder altersgemäß wuchsen und sich entwickelten, und gingen zudem der Frage nach, ob und wie oft die kleinen Probanden mit Antibiotika behandelt oder in eine Klinik aufgenommen werden mussten.
Auffällige Unterschiede zwischen den beiden Studiengruppen fanden sich nicht. »Wir konnten keine negativen Auswirkungen durch die Einnahme des MS-Medikaments beobachten«, sagt Dr. Andrea Ciplea aus Hellwigs Team. Aufgrund der ermutigenden Studienergebnisse ist die Fachinformation von Glatirameracetat jetzt geändert worden. Junge Mütter dürfen nun regulär während der Stillzeit mit dem Wirkstoff, der unter die Haut gespritzt wird, behandelt werden.
Individuelle Abwägung von Nutzen und Risiken
In der Schwangerschaft sollte nach bisherigem Kenntnisstand keine Therapie mit Natalizumab erfolgen: Einerseits lassen Berichte ein höheres Fehlgeburtsrisiko vermuten, andererseits kann eine Zunahme von Fehlbildungen nicht ausgeschlossen werden. Bis kurz vor Beginn einer Schwangerschaft darf der Arzneistoff jedoch nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung durchaus verabreicht werden. Auch kann eine Behandlung bei zuvor hoher Krankheitsaktivität und kurzer Therapiedauer in der Schwangerschaft fortgesetzt werden. Es wird dann empfohlen, Natalizumab vor der 34. Schwangerschaftswoche abzusetzen und unmittelbar nach der Geburt wieder mit der Therapie zu beginnen. Da der Wirkstoff in die Muttermilch übergeht, sollte bei einer Behandlung mit Natalizumab nicht gestillt werden.