Psyche: Wenn das Vergessen schleichend kommt

Eine leichte kognitive Störung kann, muss aber nicht Vorbote einer beginnenden Demenz sein. Sie rechtzeitig zu erkennen, hilft in jedem Fall,
den Alltag so lange wie möglich selbstständig zu meistern.

Jeder Mensch verlegt mal seinen Schlüssel. Oder kann sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wo er seine Brille zuletzt gesehen hat. Oder ob er die morgendliche Tablette, die ihm kürzlich verschrieben wurde, heute schon genommen hat. Und wie hieß gleich noch mal die nette Frau von nebenan, die gestern beim Bäcker so freundlich gegrüßt hatte? Gerade wusste man ihren Namen doch noch.

Solche kleinen Unzulänglichkeiten im Alltag sind normal und erst mal kein Grund zur Beunruhigung. Wer jedoch feststellt, dass sich sein Gedächtnis über Monate hinweg langsam, aber doch spürbar verschlechtert, sollte hellhörig werden, sagt Professor Lutz Frölich, der Leiter der Abteilung Gerontopsychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Eine zunehmende Vergesslichkeit ist keine gewöhnliche Begleiterscheinung des Alters, sondern ein Hinweis auf eine Erkrankung des Gehirns.

Mediziner sprechen in diesem Fall von einer leichten kognitiven Störung oder auch von einer MCI. Die Abkürzung steht für den englischen Begriff Mild Cognitive Impairment. Spätestens wenn nahestehende Menschen die eigenen Schwierigkeiten, sich Dinge zu merken, ebenfalls registrieren und ansprechen würden, sei es an der Zeit, einen Arzt aufzusuchen, sagt Frölich.

Zwar geht das Denken und Schlussfolgern bei fast allen Menschen mit den Jahren etwas langsamer vonstatten, sagt der Experte für neurodegenerative Erkrankungen im Alter. Auch werde das Gehirn ganz allgemein in seinen Leistungen etwas weniger flexibel. Zunehmende Vergesslichkeit jedoch ist immer ein Alarmzeichen, betont Frölich. Denn mitunter sei die MCI der Vorbote einer sehr viel ernsteren Erkrankung: der Alzheimer-Demenz.

Bei einer ärztlich und nach den bewährten Kriterien diagnostizierten MCI beträgt das Risiko der über 65-Jährigen, in den nächsten fünf Jahren eine Demenz zu entwickeln, gut 15 Prozent, erläutert Fröhlich. Ohne diese Diagnose hingegen liege es nur bei fünf Prozent. Sind bereits bestimmte Alzheimer-Biomarker verändert, die sich im Nervenwasser und wahrscheinlich bald auch im Blut nachweisen lassen, beträgt das Risiko 80 bis 90 Prozent.

Manche Arzneien schwächen das Gedächtnis

Wer also bemerkt, dass er immer häufiger Dinge vergisst oder Sachen verlegt, sollte sich nicht scheuen, seinen Hausarzt aufzusuchen und ihm davon zu berichten. Ein guter Arzt ist in der Lage, zunehmende Gedächtnisstörungen als Krankheit einzustufen, sagt Frölich. Eine sichere Diagnose kann dann anhand einer nervenärztlichen Untersuchung durch einen Psychiater oder Neurologen gestellt werden. Zudem könne ein Mediziner erkennen, ob die kognitiven Störungen vielleicht nur eine Begleiterscheinung bestimmter Medikamente oder anderer Erkrankungen seien – und in diesem Fall entweder andere Arzneien verordnen oder aber die ursächliche Krankheit gezielt behandeln.

Morphine zum Beispiel, die starke Schmerzen lindern, oder auch sogenannte Anticholinergika, die unter anderem gegen Depressionen und Parkinson eingesetzt werden, sind dafür bekannt, dass sie das Gedächtnis zuweilen negativ beeinflussen. Auch alle Herz-Kreislauf-Erkrankungen, selbst erhöhte Cholesterin- oder Blutdruckwerte, sowie Diabetes können zu vermehrter Vergesslichkeit führen.

Werden solche Ursachen ausgemacht, ist es meist nicht allzu schwer, sie zu beheben. Problematischer wird es, wenn die Gründe für die MCI im Dunkeln liegen. Inzwischen kennen wir allerdings eine Reihe von Faktoren, die das Risiko für eine leichte kognitive Störung und auch für eine spätere Demenz erhöhen, sagt Frölich. Somit kann jeder Mensch durch sein Verhalten dazu beitragen, sein persönliches Risiko für Alzheimer oder eine andere Form der Altersdemenz zu verringern.

Vielen Risiken lässt sich vorbeugen

Studien haben gezeigt, dass sich die Risikofaktoren je nach Lebensalter unterscheiden. In jungen Jahren kann vor allem eine gute Schulbildung vor einer späteren Demenz schützen. Im mittleren Alter sind es fünf – zum Teil durchaus überraschende – Faktoren, die das Risiko für Gedächtnisstörungen erhöhen: Hörverlust, schwere Kopfverletzungen, Bluthochdruck, starker Alkoholkonsum und Übergewicht. Das Gehör sollte also regelmäßig überprüft werden, empfiehlt Frölich. Wer schlecht höre, sei gut beraten, ein Hörgerät zu nutzen. Bei Sportarten, die den Kopf gefährden, also auch beim Fahrradfahren, sei es wichtig, einen Helm zu tragen. Bluthochdruck müsse mit Medikamenten behandelt werden. Alkohol solle nur in Maßen konsumiert und eventuelles Übergewicht abgebaut werden – am besten durch viel Bewegung und eine gesunde Ernährung, zum Beispiel nach dem Vorbild der mediterranen Kost.

Auch die Gene haben Einfluss

Im höheren Alter nehmen andere Faktoren an Bedeutung zu. Die wichtigsten von ihnen sind in absteigender Reihenfolge: Rauchen, Depressionen, soziale Isolation, körperliche Inaktivität, Luftverschmutzung und Diabetes. Sie alle begünstigen das Entstehen einer Demenz und sollten daher möglichst vermieden beziehungsweise ärztlich behandelt werden, sagt Frölich. Zwar hätten sowohl die Gene als auch andere, noch unbekannte Faktoren insgesamt einen größeren Einfluss darauf, ob ein Mensch an Demenz erkranke oder nicht, räumt Frölich ein. Trotzdem kann es nicht schaden, auf diejenigen Faktoren Einfluss zu nehmen, die recht leicht zu beeinflussen sind.

Eine gesunde Ernährung ist gut fürs Gehirn

Auch eine große Studie aus Schweden und Finnland habe gezeigt, dass man mit vier Punkten das Risiko einer Alterserkrankung des Gehirns spürbar senken könne, berichtet Frölich. Helfen können demnach körperliche Aktivität, am besten in der Gruppe und mindestens einmal pro Woche, die sorgsame Behandlung aller kardiovaskulären Erkrankungen, sozial anregende Kontakte sowie eine Ernährung, die viel Gemüse, Obst, Vollkornprodukte und gesunde Öle aus Nüssen oder Fisch enthält.

Nahrungsergänzungsmittel hingegen scheinen, auch wenn die Werbung meist etwas anderes verspricht, auf das Gedächtnis keine spürbaren positiven Effekte auszuüben. In wissenschaftlichen Studien konnte keines dieser Mittel eine Wirkung beweisen, sagt Frölich. Allenfalls für Ginkgo-Präparate habe man Hinweise – aber keine eindeutigen Belege – dafür gefunden, dass sie einen fortschreitenden Gedächtnisverlust zuweilen leicht bremsen können.

Medikamente gibt es noch keine

Medikamente gegen die MCI gibt es bislang nicht. Eine Einnahme von Alzheimer-Arzneien, etwa von Acetylcholinesterase-Hemmern, ist bei einer leichten kognitiven Störung nicht zu empfehlen, da deren Nebenwirkungen im Allgemeinen schwerer wiegen als die positiven Effekte auf die MCI, sagt Frölich. Erst wenn sich eine beginnende Demenz sicher abzeichne, könne man über den Einsatz geeigneter Wirkstoffe nachdenken.

Zum Ende des Jahres werden Ergebnisse aus Studien erwartet, bei denen man den für Alzheimer typischen Veränderungen im Gehirn, den Plaques, mithilfe von Antikörpern beikommen will, sagt Frölich. Sollten die Resultate positiv sein, haben wir vielleicht endlich etwas in der Hand für Menschen, die am Beginn einer Alzheimer-Erkrankung stehen.

Angst machen möchte Frölich niemandem, der ein nachlassendes Erinnerungsvermögen bei sich bemerkt. Es mit einem lächelnden Schulterzucken abzutun, sei aber nicht der richtige Weg. Wenn sich das Vergessen häuft, ist eine exakte Diagnose wichtig, betont der Mediziner. Denn dann könne man dem fortschreitenden Gedächtnisverlust mit den genannten Maßnahmen nicht nur bestmöglich vorbeugen. Sondern es bleibe auch ausreichend Zeit, um den Alltag und die Umgebung so zu gestalten, dass sich die schwindenden Gedächtnisfunktionen noch lange kompensieren lassen.