Multiple Sklerose: Schutz für den Kopf

Die körperlichen Symptome von Multipler Sklerose sind meist nicht zu übersehen. Die kognitiven werden es viel zu oft – mit gravierenden Folgen für die Betroffenen.

Professorin Iris-Katharina Penner hat eine Allergie. Nicht gegen Pollen oder Hundehaare, eher eine mentale Variante. Ich reagiere allergisch auf verharmlosende Adjektive, sagt die Leiterin der Neuropsychologie an der Universitätsklinik Bern. Wenn jemand die kognitiven Symptome von Multipler Sklerose als unsichtbar, verborgen oder soft bezeichnet – und das passiert selbst in der Fachliteratur oft – macht sie das wütend. Weil sie seit mehr als zwanzig Jahren zu diesem Thema forscht, betroffene Patienten behandelt und nur zu gut weiß, dass solche Symptome alles andere als harmlos sind.

Etwa die Hälfte aller Patienten betroffen

Rund 252.000 Menschen in Deutschland haben Multiple Sklerose (MS), eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Weil sich Verlauf, Beschwerden und Therapieerfolg bei den Patienten oft stark unterscheiden, ist MS auch als Krankheit der tausend Gesichter bekannt. Eines davon hat die Neurowissenschaftlerin und Neuropsychologin zu ihrem Schwerpunkt gemacht: kognitive Defizite, wie sie etwa bei der Hälfte aller MS-Patienten auftreten. Darunter fallen alle Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit, sagt sie, etwa Konzentrationsschwäche und Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnislücken, verlangsamtes Denken, verminderte Lernleistung, Wortfindungsstörungen, Schwierigkeiten bei der Handlungsplanung, eingeschränkte Problemlösungskompetenz oder Überforderung durch Multitasking. Vor allem zu Beginn bereiten der Expertin zufolge Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie geistige Verlangsamung den Patienten Probleme.

Große Auswirkungen auf den Alltag

Während motorische Beschwerden wie Muskelschwäche, Spastiken oder Koordinationsprobleme bei der Behandlung der MS im Mittelpunkt stehen, finden kognitive Beschwerden sogar bei Fachleuten noch wenig Beachtung. Dabei haben die Symptome große Auswirkungen auf den Alltag und gehen mit einem enormen Leidensdruck für die Patienten einher, sagt Herbert Schreiber, Professor für Neurologie an der Universität Ulm und niedergelassener Neurologe. Insbesondere an der Arbeitsfähigkeit lasse sich das gut ablesen: Studien und Zahlen von Versicherern legen nahe, dass ein enger Zusammenhang zwischen der geistigen Leistungs- und ihrer Arbeitsfähigkeit besteht. Tatsächlich sind MS-Patienten zum Beispiel häufiger krankgeschrieben, müssen ihre Arbeit reduzieren, umschulen oder in Frührente gehen.

Unsere Arbeitswelt und Leistungsgesellschaft legen Defizite gnadenlos offen, deshalb fallen sie dort besonders auf, sagt Iris-Katharina Penner. Viele Patientenfälle sind ihr diesbezüglich im Gedächtnis geblieben: Da ist die Managerin, die im Büro oft einfach in den Bildschirm starrte und nur vorgab zu arbeiten. Da ist die junge Mutter, die an der Doppelbelastung durch Beruf und Familie völlig verzweifelte. Die Frau, die Freundschaften aufgeben musste, weil sie für gemeinsame Unternehmungen zu erschöpft war – bis sie irgendwann nicht mehr dazu eingeladen wurde. Oder der Computertechniker, der bei der Arbeit immer doppelt so lange wie seine Kollegen brauchte, seinem Chef aber nichts von der Krankheit erzählen wollte. Natürlich machen die Einschränkungen auch vor dem Sozial- und Familienleben nicht halt, geschweige denn vor der Selbstwahrnehmung. Sehr viele MS-Patienten leiden zusätzlich zu ihrer Erkrankung unter Depressionen, Angststörungen und Fatigue, also extremer Müdigkeit und Energiemangel. Kommen dann noch kognitive Probleme dazu, entsteht oft ein regelrechter Teufelskreis, sagt die Neuropsychologin.

Wie kognitive Tests Patienten helfen

Für Patienten gibt es also gute Gründe, ihre kognitiven Fähigkeiten untersuchen zu lassen und die MS auch bei psychischen Problemen im Hinterkopf zu haben: Wer weiß, dass die Krankheit langsamer und vergesslicher machen kann, muss weniger an sich selbst zweifeln. Weniger Selbstzweifel verringern wiederum Depressionen. Wer Depressionen behandelt, kann die Fatigue vielleicht besser aushalten. Und wer um seine Konzentrationsschwäche weiß, kann mehr Zeit für die Arbeit einplanen. Kurzum: Das Wissen um die Zusammenhänge gibt Patienten Handlungsspielraum, kann Teufelskreise durchbrechen und die Lebensqualität verbessern. Es hilft enorm, an diesen Stellschrauben zu drehen, ermuntert Penner, die beobachtet hat, dass viele Menschen bei mentalen Problemen sehr zurückhaltend sind. Aus Scham, aus Angst? Viele überspielen ihre Defizite lieber als Probleme offen anzusprechen. Aber damit vergeben sie eine große Chance.

Hochrisikopatienten erkennen

Zumal es einen weiteren Grund gibt, den kognitiven Status möglichst früh zu erfassen: Das Ergebnis kann helfen, die Therapie zu optimieren. Aus Studien wissen wir, dass Patienten, die schon bei der Diagnosestellung kognitive Defizite aufweisen, ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, sagt Neurologe Herbert Schreiber. Mediziner können darauf reagieren, indem sie schon in frühen Krankheitsphasen stärkere Medikamente verordnen – damit lässt sich der Krankheitsverlauf bei Hochrisikopatienten nachweislich günstig beeinflussen. Je früher man die kognitiven Fähigkeiten überprüft, desto besser, sagt der Ulmer Mediziner und nutzt die Gelegenheit, mit einem weit verbreiteten Irrglauben aufzuräumen: Anders als lange gedacht, können kognitive Defizite bereits zu Beginn der Krankheit auftreten. Deshalb empfiehlt er allen MS-Patienten, sich direkt bei der Diagnosestellung und danach einmal jährlich auf kognitive Defizite untersuchen zu lassen.

Wie eine solche Untersuchung aussieht? Meist beginnt sie mit einem ausführlichen Gespräch, in dem auch Kleinigkeiten zählen: Muss man in einem Buch manchmal zurückblättern, um das Gelesene zu verstehen? Ist es schwierig, einem Gespräch mit mehreren Personen zu folgen? Ist man im Alltag vergesslich? Fällt es einem schwer, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun? Neuropsychologische Tests ergänzen das Gespräch und dienen dazu, Ausmaß und Schwere der Beeinträchtigungen zu erfassen – etwa in den Bereichen Schnelligkeit, Aufmerksamkeit oder Gedächtniskapazität. Dafür müssen Patienten mal Zahlen und Symbole nach einem erlernten Muster einander zuordnen, mal Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis wiedergeben, schnell auf bestimmte Zeichen reagieren oder möglichst viele Wörter mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben aufzählen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, doch Fachärztin Penner will nicht zu viele Details verraten. Wenn Patienten für die Tests üben, verfälschen sie das Ergebnis. Eine andere Botschaft sei viel wichtiger: Kein Patient muss sich Sorgen machen oder sich schämen. Die Tests sind spielerisch gestaltet, machen oft sogar Spaß und stellen niemanden bloß. Auch sie würde sich wünschen, dass ein jährliches Screening zum Standard für MS-Patienten wird.

Davon ist die Realität noch weit entfernt. De facto müssen sich Betroffene oft selbst darum bemühen, mit ihren Problemen ernst genommen zu werden. Denn viele Hausärzte und selbst Neurologen haben das Thema nicht auf dem Schirm. Wer sicher gehen will, die richtige Behandlung zu bekommen, sollte sich deshalb an spezialisierte Zentren, Universitätskliniken oder ausgewiesene Fachärzte und Neuropsychologen wenden.

Herausforderungen schützen das Hirn

Abgesehen davon gibt es aber auch gute Nachrichten. Im Unterschied zu vielen anderen neurodegenerativen Erkrankungen schreitet der kognitive Abbau bei MS meist weniger rasant voran. Demente MS-Patienten etwa sind äußerst selten. Außerdem kann jeder etwas zur Prävention beitragen. Studien zeigen zum Beispiel, dass moderater Ausdauersport das Gehirn schützt. Auch kognitive Herausforderungen sind hilfreich, etwa mit dem wissenschaftlichen Trainingsprogramm BrainStim. Man kann aber auch einfach ein Instrument, eine neue Sprache oder Sportart lernen. Hauptsache, das Hirn arbeitet und bekommt Impulse, sagt Iris-Katharina Penner, die gerne das Bild eines Schutzschild-Rucksacks benutzt.

Darin stecken alle geistigen Fähigkeiten, die das Gehirn beanspruchen, vom Bücherlesen bis Strategiespiele spielen. Alles, was schon in diesem Rucksack steckt, schützt das Gehirn und seine Strukturen. Und alles, was man neu dazulernt, ebenso, sagt sie. Es ist also nie zu spät, um noch etwas in den Rucksack zu packen.