Schmerz: Gezielte Bewegung gegen den Schmerz

Medikamente sind nicht die einzige Option, wenn es darum geht, Kopfschmerzen und Migräne effizient zu behandeln. Benjamin Schäfer, leitender Physiotherapeut der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein im Taunus, erläutert, wie eine Physiotherapie die Beschwerden lindern kann und welche Übungen sich auch zu Hause gut ausführen lassen.

Herr Schäfer, die Fachwelt unterscheidet heute mehr als zweihundert Arten von Kopfschmerzen. Das zeigt, wie komplex das Krankheitsbild ist und wie unterschiedlich Ursachen, Symptome und folglich auch die Therapien sein können. Bei welchen Patienten, die zu Ihnen in die Schmerzklinik kommen, können neben Medikamenten auch physiotherapeutische Maßnahmen helfen?

Vor allem bei Menschen, die unter zervikogenen Kopfschmerzen leiden, sind physiotherapeutische Übungen und manuelle Techniken oft besonders effizient. Denn diese Art Schmerzen hat ihren Ursprung in den knöchernen oder weichen Strukturen der Halswirbelsäule. In der Regel beginnt der Schmerz im Nacken und zieht dann über den Kopf in die Stirn, wo er vom Patienten besonders intensiv wahrgenommen wird. Die üblicherweise einseitigen Schmerzen können zusätzlich in die Schulter und den Arm ausstrahlen. Leidet ein Mensch unter zervikogenen Kopfschmerzen, hat er an anderen Tagen oft auch Nacken- oder Kieferprobleme.

Und wie sieht es bei Patienten aus, die an einer anderen Form von Kopfschmerzen oder Migräne leiden?

Auch bei Menschen mit Spannungskopfschmerzen oder Migräne können Bewegungseinschränkungen im Nacken oder punktuelle Verhärtungen in den Muskeln und den dazugehörigen Faszien, auch myofasziale Triggerpunkte genannt, ein Auslöser für die Beschwerden sein – oder zumindest zu ihnen beitragen. Leiden diese Patienten nicht nur unter Kopf-, sondern immer wieder auch an Nacken- oder Kieferschmerzen, ist eine Physiotherapie meist hilfreich. Gleiches gilt, wenn sich an einem eigentlich schmerzfreien Tag eines Patienten durch bestimmte Tests, die wir vornehmen, die bekannten Kopfschmerzen oder Migräneattacken auslösen lassen. Auch bei Migränepatienten, bei denen Nackenschmerzen als Vorboten einer Attacke auftreten oder deren Folge sind, finden wir manchmal Funktionsstörungen, die wir gut physiotherapeutisch behandeln können.

Wie läuft eine Behandlung bei Ihnen in der Klinik ab?

Zunächst untersuchen wir ausführlich das muskuloskelettale System des Patienten, also die Beweglichkeit der Gelenke und die Zusammenarbeit der Muskeln. Wir prüfen, ob Muskelverkürzungen, Blockaden, Dysbalancen oder Haltungsschäden vorliegen. Ist dies der Fall, wenden wir manuelle Techniken an den Halswirbeln und der Muskulatur an. Sehr wichtig ist es auch, dass die Betroffenen selbst Techniken und Übungen erlernen, mit denen sie eigenständig gegen ihre Beschwerden angehen können.

Welche Art der Selbsthilfe ist am wichtigsten?

Bewährt haben sich zum einen regelmäßiger leichter Ausdauersport und Entspannungstechniken. Zum anderen sind Übungen zur Mobilisierung, Kräftigung und Verbesserung der Körperwahrnehmung sehr hilfreich. Zu all diesen Maßnahmen leiten wir die Patienten in der stationären Schmerztherapie an. Sie lernen fünf verschiedene Entspannungstechniken kennen, nehmen am Nordic Walking teil und erfahren, welche Kiefer- und Nackenübungen ihnen helfen. Zudem zeigen wir den Patienten Massagetechniken, mit denen sie ihre angespannte Muskulatur eigenständig lockern können. Dabei kommen auch Faszienrollen und -bälle zum Einsatz. Lassen sich die Funktionsstörungen durch manuelle Techniken, ausführliche Beratung und Eigenübungen lindern, kann sich dies auf die Kopfschmerzen dauerhaft positiv auswirken.

Eignen sich die genannten Maßnahmen auch zur Vorbeugung von Kopfschmerzen und Migräne?

Ja. Sie dienen sogar in erster Linie der Prophylaxe von Migräne und Kopfschmerzen. Auch aus diesem Grund ist es so wichtig, sowohl die physiotherapeutischen Übungen als auch die Entspannungstechniken regelmäßig anzuwenden.

Was raten Sie Patienten, die nicht in stationärer Behandlung sind?

Ich würde ihnen empfehlen, sich einen Physiotherapeuten oder eine -therapeutin zu suchen, der oder die zusätzlich in der Manualtherapie ausgebildet ist, also manuelle Techniken an den Halswirbeln und der Muskulatur anwenden kann. Voraussetzung ist eine ärztliche Verordnung, auf der Manuelle Therapie steht. Der Physiotherapeut wird zunächst die Kiefer- und Nackenregion untersuchen und dem Patienten bei Bewegungseinschränkungen oder schmerzhaft angespannten Muskeln auch individuell passende Übungen für zu Hause zeigen. Diese sollten gemeinsam mit Entspannungsübungen langfristig in den Alltag eingebaut werden. Am besten erstellt man sich einen Wochenkalender und plant die Übungen dort zum Beispiel zwei bis drei Mal pro Woche fest ein.

Lässt sich darüber hinaus noch etwas tun?

Ja, zusätzlich sollte man sich Tipps zum aeroben Ausdauersport geben lassen. Nordic Walking, Joggen, Radfahren oder Schwimmen eignen sich hierfür gut. Aerober, also leichter Ausdauersport, bei dem der Körper stets ausreichend Sauerstoff zur Verfügung hat, wird – ebenso wie Entspannungsübungen – auch in den Leitlinien zur episodischen und chronischen Migräne sowie in denen zu Kopfschmerzen empfohlen. Wer mag, kann zur Überprüfung der Wirksamkeit seines Trainingsplans einen Kopfschmerzkalender führen.

In Ihrem Patienten-Ratgeber beschreiben Sie Übungen für zu Hause. Welche würden Sie besonders empfehlen?

Wer häufig unter Nackenschmerzen leidet, sollte die Halswirbelsäule regelmäßig in alle Richtungen bewegen. Dazu setzt man sich aufrecht hin, neigt den Kopf im schmerzfreien Bereich langsam nach vorne und hinten, kippt ihn anschließend nach links und rechts, sodass jeweils die andere Halsseite gedehnt wird. Im dritten Schritt wird der Kopf – wie beim Schulterblick – nach links und rechts hinten gedreht. In der Anfangszeit sollten drei bis fünf Wiederholungen pro Bewegungsrichtung ausreichen.

Bei schmerzhaft verkrampften Muskeln hat es sich bewährt, diese abwechselnd bewusst anzuspannen und dann wieder zu entspannen. Hat man beispielsweise Schmerzen im Bereich des Kiefers, spannt man die Kaumuskeln für sieben bis zehn Sekunden kräftig an, indem man die Zähne fest aufeinanderbeißt. Bei Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich zieht man die Schultern hoch, um sie anschließend wieder locker nach unten sinken zu lassen. Dieses bewusste An- und Entspannen sollte man ruhig fünf bis acht Mal hintereinander machen. Schon solche einfachen Übungen können vielen Kopfschmerz- und Migräne-Patienten helfen, ihre Beschwerden zu lindern.