Psyche: Mit Kreativtherapien zu mehr Bewegung und Wohlbefinden

Wer an Neurorehabilitation denkt, hat meist ein Bewegungs- oder Gedächtnistraining vor Augen. Tanz, Musik oder Malerei kommen dagegen nur wenigen in den Sinn. Dabei können kreative Therapien den Rehaprozess beflügeln, wie immer mehr Untersuchungen belegen. Doch nicht alle Rehakliniken nutzen die Chancen, die Kreativtherapien bieten.

Die Therapeutin und der Patient sitzen gemeinsam vor einer Djembé, einer westafrikanischen Trommel. Die Therapeutin spielt einen kurzen Rhythmus auf der Trommel vor und lädt den Patienten ein, es ihr gleichzutun. Das gelingt mit der Zeit immer besser und so fängt die Therapeutin an, zum Rhythmus der Trommel Klavier zu spielen. Nach einigen Sitzungen wagt sich auch der Patient ans Klavier. Was ist Ihr Lieblingssong?, will die Therapeutin wissen, und dann legen sie gemeinsam los. Ob Yesterday oder Stairway to Heaven, mit einem speziell entwickelten Notensystem aus Farben und Formen lernt der Patient nach und nach, seinen Lieblingssong zu spielen. Das macht Spaß, die Zeit vergeht wie im Flug und im Laufe der Musiktherapie hat der Patient vieles erarbeitet, was in der Neurorehabilitation sonst mit Monotonie und Mühsal verbunden ist: Bewegungsabläufe immer und immer wieder zu üben und neue Informationen im Gedächtnis zu speichern.

Musik bahnt neue Wege im Gehirn

Diese Szene illustriert eine Musiktherapie in der Neurorehabilitation von Menschen mit einer traumatischen Hirnverletzung, etwa nach einem Autounfall. Ein Forschungsteam um die Neuropsychologin Sini-Tuuli Siponkoski von der Universität Helsinki wollte wissen, ob die Therapie Betroffenen bei der Rehabilitation helfen kann. Tatsächlich verringerten sich damit im Gegensatz zu einer Vergleichsgruppe Defizite in der sogenannten exekutiven Funktion. Das bedeutet: Die Patientinnen und Patienten konnten mit der Zeit flexibler von einer Aufgabe zur anderen wechseln, Impulsreaktionen erfolgreicher unterdrücken und ihr Kurzzeitgedächtnis stärken. Kurz: Sie erlernten Fähigkeiten, die den Alltag erleichtern – vom Schnürsenkelbinden bis zum Einkaufen.

Auch im Gehirn entdeckte das finnische Forscherteam Unterschiede. So nahm die graue Substanz in einem Bereich unterhalb der rechten Schläfe
in der Musiktherapiegruppe zu. Je stärker der Zuwachs, desto besser waren auch die Lernleistungen der Studienteilnehmenden. Der Ansatz der Musiktherapie und generell der Kreativtherapien in der Neuroreha ist es, die motorischen Fähigkeiten zu wecken, ohne konkret Lern- und Gedächtnisleistungen einzufordern, sagt Martin Lotze, Professor für Neurologie an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald. Das macht es für die Betroffenen leichter, dranzubleiben und Fortschritte zu erleben.

Zudem kann eine Musiktherapie depressive Symptome lindern. Da rund ein Drittel der Schlaganfall-Betroffenen und zwei Drittel der von Parkinson-Betroffenen unter Depressionen leiden, kommt kreativen Therapien auch hier eine besondere Bedeutung zu.

Raus aus der Isolation

Und was ist mit anderen kreativen Ausdrucksformen? Tatsächlich haben sich auch gestalterische Therapien, etwa mit Knetmasse, Fotografie, Film und Malerei seit den 1990er-Jahren als therapeutische Maßnahme in der Neuroreha etabliert. Sie helfen Betroffenen, die Veränderungen in ihrem Leben zu begreifen und zu bewältigen.

Eine besondere Rolle kommt der Tanztherapie zu, denn sie spricht den Menschen direkt in seiner Körperlichkeit an. Ihr Nutzen ist durch Untersuchungen mehrfach belegt. Tanztherapeutin Susanne Bender vom Europäischen Zentrum für Tanztherapie mit Sitz in München ist von ihrer Methode überzeugt. In einer typischen Therapiestunde sitzen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst im Kreis. Vielen fehle zu Beginn der Mut, sich zur Musik zu bewegen, berichtet Bender. Doch dann wippt hier der erste Fuß, dort schwingt ein Arm und die Bewegungen nehmen Fahrt auf. Wichtig sei dabei vor allem der Kontakt in der Gruppe, betont die Therapeutin. Mancher löse sich erst in der Tanztherapie aus seiner Erstarrung und nehme Verbindung zu anderen auf. Susanne Bender: Raus aus der Isolation, rein in die Kommunikation. Das ist ein wichtiger und mitunter vernachlässigter Aspekt im Heilungsprozess und in der Krankheitsbewältigung. Dabei helfe es, den Blick von den Defiziten abzuwenden und auf das zu richten, was noch geht. Bei uns steht nicht die motorische Rehabilitation im Vordergrund, sondern die emotionale Verarbeitung der Diagnose.

Tanzend über die Ampel

Als besonders effektiv haben sich Tanztherapien in der Behandlung von Menschen erwiesen, die unter Parkinson leiden. Bei ihnen scheinen Tango, Walzer und Foxtrott Gleichgewicht, Koordination und das Gehen zu verbessern. Ich habe jetzt mehr Vertrauen in die Art, wie ich mich bewege, berichtet eine Parkinson-Patientin in einer Videodokumentation des Mark Morris-Tanzzentrums in New York City. Dort entwickelten Tänzer bereits vor mehr als 20 Jahren gemeinsam mit Betroffenen den Dance for PD®, also Tanz für Parkinson, der auch in Deutschland angeboten wird. Arme öffnen, umarmen, zur Seite wiegen, leitet der New Yorker Tanztherapeut John Heginbotham seine sitzenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu sanfter Ballettmusik an, bevor es auf die Tanzfläche zum Paartanz geht. Der Spaß steht den Tanzenden dabei ins Gesicht geschrieben. Eine Tanztherapie hilft Menschen mit Parkinson, über rhythmische Signale besser in die Bewegung hineinzukommen, sagt der Greifswalder Neurologe Martin Lotze. Viele profitierten davon im Alltag, etwa um bei Grün rasch über die Straße zu kommen.

Kreativität kann auch Angst machen

Doch wie bei jeder Therapie können auch Kreativtherapien unerwünschte Wirkungen haben. Dazu zählt beispielsweise die Angst, sich mit der eigenen Beeinträchtigung vor einer Gruppe beim Tanzen, Theaterspielen oder Malen zu zeigen. Oder die Enttäuschung, die eintreten kann, wenn der künstlerische Ausdruck doch nicht so gelingt wie gedacht. Diese Art der Therapie weckt neue Lebensgeister, die man erstmal beherrschen muss, sagt Lotze. Die meisten Patientinnen und Patienten nähmen die Herausforderung jedoch an und spürten mit der Zeit den Nutzen für ihren Körper und ihr Wohlbefinden.

Noch hat es sich nicht überall herumgesprochen, dass Kreativtherapien mit Musik, Gesang, Tanz oder bildnerischem Gestalten in der Neurorehabilitation helfen. Doch wenn Patientinnen, Patienten und ihre Angehörigen niedergelassene Ärzte und in Kliniken gezielt darauf hinweisen, könnte sich der wertvolle Therapiebaustein zunehmend etablieren.