Demenz: Für ein besseres Leben mit Alzheimer
Fast 1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind an einer Demenz erkrankt. Ihre häusliche Situation zu stärken und Angehörige zu unterstützen, ist ein erklärtes Ziel der Nationalen Demenzstrategie. Erreicht werden soll es unter anderem durch speziell ausgebildete Pflegekräfte, die Dementia Care Manager.
Vor der Haustür, an der Stefanie Kremer am Vormittag klingelt, leuchtet es orange. 40 Kilogramm Apfelsinen stehen dort, säuberlich aufgereiht in Kisten. Das Obst ist einer der Gründe, weswegen Kremer heute hier ist. Gekauft hat es eine Alzheimer-Patientin. Brauchen wird sie es vermutlich nicht. Die ehemalige Künstlerin lebt allein mit ihrem Mann. Für zwei Menschen sind mehr als 200 Orangen schon eine ganze Menge.
»Da Käufe wie dieser in der letzten Zeit vermehrt vorkamen, hat ihr Ehemann uns um Hilfe gebeten«, erzählt Kremer. Sie ist erste Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Siegen-Wittgenstein e.V. und hat sich kürzlich im Rahmen des staatlich geförderten Forschungsprojekts Dementia Care Management zu einer von fünf Dementia Care Managerinnen, kurz DeCM, in der Region fortbilden lassen.
»Unsere Aufgabe ist es, die häusliche Situation von Alzheimer-Patienten so genau wie möglich zu erfassen und dann gezielte Hilfen anzubieten«, erläutert Kremer. »Denn die meisten Menschen mit Demenz wollen gerne so lange wie möglich selbstbestimmt und im eigenen Zuhause leben.« DeCM sollen helfen, diesem Wunsch nachzukommen.
Immer mehr Menschen mit Demenz
In Deutschland leben derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit einem Demenzleiden. Statistisch gesehen gibt es somit in mehr als jedem 25. Haushalt eine demente Person. Die allermeisten von ihnen sind an Alzheimer erkrankt. Etwa 100.000 dieser Menschen sind noch keine 65 Jahre alt. Experten schätzen, dass es im Jahr 2050 aufgrund der demografischen Entwicklung zwischen 2,4 und 2,8 Millionen Demenzpatienten hierzulande geben wird.
In ihrer 2020 veröffentlichten Nationalen Demenzstrategie hat sich die Bundesregierung dazu verpflichtet, das Leben von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zu verbessern. Zu diesem Zweck wurden 27 Ziele formuliert, die mit 162 konkreten Maßnahmen erreicht werden sollen. Die bundesweite Einführung eines Dementia Care Managements ist eine davon.
Eine zentrale Person
Ins Leben gerufen hat die Idee unter anderen René Thyrian, Professor für Interventionelle Versorgungsforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Standort Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. »Eigentlich gibt es selbst im ländlichen Raum eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten für Alzheimer-Patienten und ihre Familien und Freunde«, sagt Thyrian. »Es ist aber für die Betroffenen oft extrem schwer, sich im Dschungel dieser Angebote zurechtzufinden.«
An der Versorgung von Alzheimer-Patienten seien meist zahlreiche Menschen und Einrichtungen beteiligt, erläutert Thyrian: etwa die Haus- und Fachärzte, ambulante Pflegedienste, lokale Auskunfts- und Beratungsstellen wie die Pflegestützpunkte oder die Lokalen Allianzen für Menschen mit Demenz, Gedächtnissprechstunden, die es vor allem in größeren Städten gibt, Selbsthilfeorganisationen wie die Deutsche Alzheimer Gesellschaft und viele weitere mehr.
»Eine Dementia Care Managerin hingegen dient den Betroffenen als eine feste Ansprechpartnerin, die auch zu ihnen nach Hause kommt«, sagt Thyrian. »Sie arbeitet eng mit allen anderen Menschen zusammen, die Alzheimer-Patienten und ihre Angehörigen medizinisch oder pflegerisch betreuen und beraten.« Dass eine solch zentrale Person die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und ihren Familien deutlich verbessern kann, hat Thyrian gemeinsam mit Kollegen bereits in einer im Jahr 2017 in der Fachzeitschrift JAMA Psychiatry veröffentlichten Studie gezeigt.
»Für diese Studie haben wir zunächst nach Hausärzten gesucht, die bereit waren, bei ihren über 70-jährigen Patienten systematisch nach den Symptomen einer beginnenden Demenz zu suchen«, berichtet Thyrian. Auf diese Weise kamen 634 Teilnehmer der Studie zusammen, von denen die eine Hälfte sechs Monate lang eine speziell ausgebildete Dementia Care Managerin zur Seite gestellt bekam. Die andere Hälfte der Patienten wurde wie gewohnt behandelt.
»Wir konnten beobachten, dass Probanden mit einer DeCM besser medizinisch versorgt waren und weniger neuropsychiatrische Symptome aufwiesen, also beispielsweise seltener als die anderen Alzheimer-Patienten Anzeichen einer Depression zeigten«, sagt Thyrian. Auch die Belastung der Angehörigen habe sich durch die DeCM spürbar verringert.
Stets im Sinne der Patienten
Als eine der bundesweit ersten Regionen ist der Kreis Siegen-Wittgenstein in Nordrhein-Westfalen nun dem Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns gefolgt. In einer Pilotstudie wurde dort zunächst untersucht, inwieweit sich das ursprünglich entwickelte Konzept übernehmen, anpassen und ausweiten lässt. »Dabei haben wir sehr darauf geachtet, nicht nur mit Experten der Versorgung zusammenzuarbeiten, sondern von Anfang an auch Patienten und ihre Angehörigen als Ko-Forschende mit einzubinden – da sie ja selbst am besten wissen, welche Hilfe und Unterstützung sie benötigen«, sagt Katja Seidel vom Lehrstuhl für Psychologische Alternsforschung der Universität Siegen, die das Projekt wissenschaftlich begleitet.
Inzwischen ist in Siegen-Wittgenstein eine zweite Studie angelaufen, bei der das Dementia Care Management Einzug in die Routineversorgung gehalten hat. Auch in anderen Regionen, etwa in der Uckermark, im östlichen Vorpommern und in Hessen, bieten schon die ersten DeCM ihre Hilfe an – wenn es zum Beispiel darum geht, einen Pflegegrad zu ermitteln, Medikamente richtig einzunehmen oder Sturzgefahren in der Wohnung zu minimieren. »Ich kann allen Patienten und ihren Angehörigen nur dazu raten, offen mit der Erkrankung umzugehen und jede nur mögliche Hilfe zu erfragen und anzunehmen«, sagt René Thyrian.
Stefanie Kremer jedenfalls hat mit ihrer neuen Aufgabe als DeCM bisher viele positive Erfahrungen gemacht. Mit der Siegener Künstlerin hat sie vereinbart, dass Einkäufe an der Haustür nur noch gemeinsam mit ihrem Mann oder gar nicht mehr erfolgen und dass im Portemonnaie künftig nur noch eine begrenzte Menge Geld steckt, über die sie frei verfügen kann. »Ich glaube, dass diese Lösungen sehr im Sinne der Patientin sind«, sagt Kremer. »Zumindest hat sie mir zum Abschied einen Stein geschenkt, den sie gefunden hat.« Er hat die Form eines Herzens.