Multiple Sklerose: Berechtigte Hoffnung

Multiple Sklerose kommt selten allein. Der Münchner Neurologe Dr. Thomas Knoll erklärt im Interview, welche Begleiterkrankungen es gibt – und wie Patienten sich wappnen können.

Herr Dr. Knoll, Multiple Sklerose gilt als Krankheit der tausend Gesichter. Warum eigentlich?

Weil sie bei jedem Patienten anders verläuft: in Schüben oder fortschreitend, mit unterschiedlichen Symptomen, Beschwerden, Therapieerfolgen und Begleiterkrankungen. Die eine Multiple Sklerose gibt es nicht, die Erkrankung kann sehr unterschiedlich verlaufen.

Und sie kommt nicht unbedingt allein. Was versteht man unter Begleiterkrankungen?

Wie der Name schon sagt: Das sind Krankheiten, die begleitend zu einer Grunderkrankung auftreten. Nach der MS-Diagnose entwickeln Menschen nicht selten Ängste oder eine Depression. Daneben haben Betroffene ein höheres Risiko für andere Autoimmunkrankheiten wie zum Beispiel Diabetes Typ-1 oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.

Warum sind Angst und Depressionen bei MS so häufig?

Beides kommt insbesondere zu Beginn der Erkrankung oft vor: Die Diagnose einer chronischen Krankheit ist für viele Menschen ein Schock, das zieht einem erstmal den Boden unter den Füßen weg. Und gerade MS ist in unserer Gesellschaft noch immer stark stigmatisiert. Da denken viele gleich an bleibende Behinderung, ein Leben im Rollstuhl und als Pflegefall, an Autonomieverlust. Die komplette Lebensplanung wird scheinbar in Frage gestellt. Das hat zwar schon lange nichts mehr mit der Realität zu tun, steckt aber tief in den Köpfen der Menschen.

Wie sieht die Realität denn aus?

Wir können die Krankheit heute deutlich früher diagnostizieren, viel effektiver medikamentös behandeln und dadurch die langfristige Prognose erheblich verbessern. Der Großteil unserer Patienten kann privat und beruflich ein nahezu uneingeschränktes Leben führen. Wir können die MS zwar noch nicht heilen, aber Betroffenen eine sehr gut begründete, langfristig positive Perspektive geben.

Trotzdem kämpft fast die Hälfte der Betroffenen mit Depressionen und Angststörungen.

Wie bereits erwähnt bringt das Leben mit einer chronischen Krankheit natürlich Belastungen mit sich: Die Angst vor dem nächsten Schub, der Blick in eine vermeintlich ungewisse Zukunft, das Überdenken der Lebensplanung. In dieser Phase der Verunsicherung interpretieren viele Patienten jedes banale Kribbeln oder Zucken als Zeichen eines Krankheitsfortschritts. Da sind die inneren Antennen voll ausgefahren, Unsicherheit und Befürchtungen werden verstärkt. All das führt bei vielen Betroffenen zu Angst, Sorgen, Grübeln, Traurigkeit, sozialem Rückzug. Der Großteil kommt nach einigen Wochen oder Monaten gut darüber hinweg und das Leben geht mehr oder weniger weiter wie vorher.

Aber einige Patienten entwickeln eine längerfristige sogenannte Anpassungsstörung und kommen mit der neuen Situation nicht zurecht. Dabei spielen auch die Persönlichkeitsstruktur und das soziale Netz eine große Rolle: Wie gut gelingt es, die Diagnose zu verarbeiten und nach vorne zu sehen? Fangen Familie, Freunde und Partnerschaft mich auf? Gibt es im sozialen Umfeld MS-Betroffene, die sich als positives Vorbild eignen, an denen man sich aufrichten kann?

Was ist mit Fatigue und kognitiven Störungen?

Das sind keine Begleiterkrankungen, sondern mögliche Symptome einer MS. Einige Patienten leiden unter chronischer Erschöpfung, Fatigue genannt. Das ist eine bleierne Müdigkeit, die sich nicht durch Schlaf oder Ausruhen vertreiben lässt. Ein Teil der Betroffenen entwickelt zudem kognitive Einschränkungen, etwa Konzentrationsstörungen, Gedächtnisprobleme oder verlangsamtes Denken. Das muss nicht gleich
dramatische Ausmaße annehmen, der Ausdruck brain fog beschreibt es ganz gut.

Beide, Fatigue und kognitive Defizite, können aber zu Einschränkungen im privaten und im Berufsleben führen. Manche Patienten ziehen sich zurück, meiden Kontakte, haben keine Energie für Sport und Bewegung. Dies kann wiederum das Risiko für Depressionen und Angststörungen erhöhen.

Was kann man gegen die psychischen Begleiterkrankungen tun?

Wer tatsächlich über Monate hinweg niedergeschlagen ist und kein Licht am Horizont sieht, sollte sich Hilfe holen. Manchmal hilft es schon, offene Fragen zu klären, etwa zur Prognose. Ich versuche, meinen Patienten immer zu vermitteln, dass sie trotz der Krankheit eine Zukunft haben. Und keine schlechte! Früh und beherzt behandelt, lässt sich MS gut kontrollieren. Aber manchmal kommen diese Informationen nicht wirklich an. Dann braucht es Gesprächs- oder Verhaltenstherapien, um das negative Gedankenkarussell zu durchbrechen. Auch angstlösende Medikamente oder Antidepressiva können phasenweise hilfreich sein. Eine wichtige Botschaft ist: Die MS-Therapie ist mehr als nur eine Behandlung mit Immuntherapeutika – man kann selbst etwas dagegen tun. Es geht also auch darum, die Selbstwirksamkeit zu stärken, was wiederum vor Depressionen schützen kann.

Was können Patienten denn selbst tun?

Es gibt eine Menge Stellschrauben, an denen man drehen kann. Die Therapie besteht ja zu einem guten Teil aus einer Optimierung des Lebensstils. Viel Bewegung und Sport verbessern Koordination und Gleichgewicht, haben aber möglicherweise sogar einen positiven Einfluss auf den Krankheitsprozess selbst. Auch über die Ernährung lässt sich viel erreichen, weil man damit entzündliche Prozesse im Körper abschwächen kann. Wenn man sich salzarm ernährt, das Mikrobiom optimiert und den Fleisch-, Milch- und Alkoholkonsum einschränkt, ist schon viel gewonnen. Ein gesundes Körpergewicht zu erreichen und zu halten, ist für MS-Patienten besonders wichtig, weil insbesondere sogenanntes weißes Körperfettgewebe an Entzündungsprozessen beteiligt ist und als Treiber von Autoimmunerkrankungen gilt. Das Gleiche gilt für das Rauchen.

Daneben kann Gehirntraining, zum Beispiel über Apps, dabei helfen, die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gedächtnisleistungen zu schützen oder zu verbessern.

Bisher haben wir vor allem über psychische Begleiterkrankungen gesprochen. Wie sieht es mit körperlichen aus?

Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, also in erster Linie eine Erkrankung des Immunsystems. Dabei richtet sich die körpereigene Abwehr gegen eigenen Körperstrukturen – in diesem Fall gegen das zentrale Nervensystem, also Gehirn, Rückenmark und Sehnerven. Es klang schon an: Wenn im Immunsystem einmal der Wurm drin ist, ist auch das Risiko für andere Autoimmunerkrankungen grundsätzlich erhöht. Bei MS-Patienten sehen wir zum Beispiel immer wieder Schilddrüsenerkrankungen wie eine Hashimoto-Thyreoiditis, chronische Darmerkrankungen, wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa, sowie klassische Rheumaerkrankungen, wie Morbus Bechterew oder rheumatoide Arthritis. Auch Schuppenflechte (Psoriasis) und Diabetes Typ-1 gehören dazu. Interessanterweise können wir manchmal zwei Autoimmunerkrankungen mit dem gleichen Medikament behandeln.

Kann MS auch dem Herzen zusetzen? Dafür gibt es offenbar zunehmende Hinweise aus der Wissenschaft.

Ehrlicherweise sehe ich das in der Praxis selten – und wenn, dann eher bei etwas älteren Patienten. Ab einem gewissen Alter sind Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte oder Herzrhythmusstörungen eben einfach wahrscheinlicher, ob mit oder ohne MS. Ich könnte mir grundsätzlich vorstellen, dass chronische Entzündungsprozesse oder auch Störungen des vegetativen Nervensystems das kardiale Risiko bei MS-Patienten erhöhen. Vielleicht fehlt da bei uns Neurologen derzeit noch die spezielle Aufmerksamkeit. Dazu wird aber sicher viel geforscht. Ich würde Patienten auf jeden Fall raten, beim Neurologen offen alle neu aufgetretenen Beschwerden und anderswo neu gestellten Diagnosen vorzutragen. Die Frage nach neuen Symptomen oder Diagnosen gehört bei uns zum Standard-Fragenkatalog in der MS-Sprechstunde. Dann kann der Neurologe mit dem Patienten eine Einordnung vornehmen, den möglichen Bezug zur MS herstellen und gegebenenfalls weitere medizinische Fachrichtungen hinzuziehen. Umgekehrt sollten natürlich alle behandelnden Ärzte eines Patienten über die MS Bescheid wissen. Dass Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen sich hier gegenseitig wertvolle Impulse geben, ist sehr gut vorstellbar.