Psyche: Streicheleinheit für die Seele

Als Klinischer Psychopharmakologe hat sich der Arzt Professor Bruno Müller-Oerlinghausen viel mit den Effekten von Antidepressiva beschäftigt. Er hat erfahren müssen, dass deren Wirkung oft begrenzt ist – und hat sich daher auf die Suche nach ergänzenden Therapieoptionen begeben. Gefunden hat er sie in einer speziellen Form der Massage.

Herr Professor Müller-Oerlinghausen, Sie setzen sich dafür ein, depressiven Menschen nicht nur mit Medikamenten und Psychotherapien, sondern auch mit gezielten Berührungen zu helfen.Wie sieht eine solche Behandlung aus?

Es handelt sich um eine Massage, bei der der ganze Körper überwiegend mit langsamen, sanften Streichbewegungen bearbeitet wird. Der Patient liegt dazu unbekleidet, eventuell mit Tüchern bedeckt, auf einer Massagebank. Der Raum ist warm und still. Der Masseur, ein speziell ausgebildeter Körpertherapeut, verwendet ein vorgewärmtes Öl und beginnt in der Regel mit der Rückseite des Körpers. Anschließend behandelt er die Vorderseite und zum Schluss den Kopf – wenn der Patient es mag, auch das Gesicht.

Was genau kann die Massage bewirken? Und wo liegen ihre Grenzen?

Die meisten Menschen mit Depressionen haben den Zugang zu ihrem Körper verloren. Sie spüren ihn nicht mehr. Hier setzt die Berührungstherapie an. Eine Patientin hat beispielsweise berichtet, dass sie nach einer psychoaktiven Massage, wie ich sie gerade beschrieben habe, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ihre Beine und Füße gefühlt habe. Natürlich können wir allein durch Berührungen die Krankheit als solche nicht beseitigen. Dennoch ist es möglich, den Patienten deutliche Erleichterung zu verschaffen.

Wie lange und wie oft sollten die Massagen erfolgen?

In der Regel dauert eine Behandlung zwischen 35 und 50 Minuten. Sie kann wöchentlich oder 14-tägig vorgenommen werden. Meist hält die Wirkung einige Tage, manchmal wochenlang an. Wie viele Einheiten erforderlich sind, bis der Patient die positiven Effekte auch im täglichen Leben wahrnimmt, ist individuell unterschiedlich. Für den Einstieg empfehle ich vier bis sechs Behandlungen.

Was weiß man darüber, wie Berührungen im Körper wahrgenommen und verarbeitet werden?

Die Haut enthält eine Vielzahl verschiedener Rezeptoren sowie freie Nervenenden, die alle in der Lage sind, unterschiedliche Formen der Berührung wahrzunehmen und die Informationen darüber an das Gehirn weiterzuleiten. Dort, wo die Haut behaart ist, finden sich zum Beispiel sogenannte C-taktile Fasern. Sie lassen sich durch sanftes Streichen aktivieren und schicken ihre Impulse direkt in das Limbische System – also in jene Hirnregion, in der Emotionen verarbeitet werden. Diese Fasern arbeiten zwar langsam, vermitteln aber jedem Menschen ein wohliges Gefühl.

Zu welchen physiologischen Veränderungen können Berührungen führen?

Bei depressiven Menschen beobachten wir oft eine erniedrigte Hauttemperatur und eine verkrampfte Muskulatur, die teilweise eine veränderte Körperhaltung zur Folge hat. Solche Symptome kennzeichnen die Depression primär als eine Leibkrankheit und können durch die Massage gelindert werden. Heilsame professionelle Berührung löst zudem hormonelle Veränderungen aus. Der Körper produziert zum Beispiel vermehrt Oxytocin, das unter anderem das Wohlgefühl erhöht. Gleichzeitig sinkt im Blut die Menge des Stresshormons Cortisol. Darüber hinaus stimuliert eine psychoaktive Massage den Vagusnerv, wodurch der Körper insgesamt mehr Ruhe und Entspannung findet.

Wie wirkt sich all das auf die Psyche aus?

Viele Patienten berichten darüber, dass während der Massage die negative Gedankenspirale in ihrem Kopf erstmals seit langer Zeit unterbrochen wurde. Ihre Stimmung bessert sich, Ängste lassen nach. Fast alle fühlen sich im Anschluss frischer, die meisten schlafen auch wieder besser. Gelegentlich kommt es während der Behandlung zu sehr starken emotionalen Reaktionen: Die Menschen weinen, zuweilen ohne genau zu wissen warum. Dennoch fühlen sie sich anschließend wohler.

Und fast immer ist es wie gesagt so, dass die Patienten lernen, sich wieder selbst zu spüren. Bildlich gesprochen scheint die Berührung den Panzer, der den Körper depressiver Menschen umgibt, aufzuweichen. Eine Patientin sagte einmal, dass die Therapeutin nicht nur ihren Körper, sondern vor allem auch ihre Seele berührt habe.

Wurden Berührungstherapien bereits in Studien untersucht?

Die erste kontrollierte Studie in Deutschland haben wir im Jahr 2004 veröffentlicht. Dafür hatten wir bei 32 stationär behandelten Patienten mit Depressionen die Wirkung der von uns entwickelten Slow Stroke-Massage mit der von Entspannungs- und Wahrnehmungsübungen verglichen. Beide Angebote erfolgten begleitend zur konventionellen Therapie. Damals konnten wir bereits vielfältige positive Effekte der Berührungstherapie beobachten und zeigen, dass sie den angebotenen Übungen überlegen war.

Andere Studien, auch aus den USA, haben unsere Ergebnisse später bestätigt. Ausführliche Daten von 60 ambulant behandelten Patienten enthält die vor zwei Jahren veröffentlichte Dissertationsarbeit meiner Würzburger Kollegin Dr. Michaela Maria Arnold. Über die Langzeiteffekte der Berührungstherapie wissen wir momentan allerdings noch wenig.

Wird diese Therapie schon deutschlandweit angeboten?

Leider haben wir hierzulande bisher nur wenige Körpertherapeuten, die mit dem Verfahren vertraut sind. Wer im Internet nach Gabriele Mariell Kiebgis sucht, findet auf ihrer Seite Körpertherapie am Bodensee eine Liste qualifizierter Masseure. In Berlin bietet Claudia Berg eine entsprechende Fortbildung und in Würzburg Dr. Michaela Maria Arnold die psychoaktive Massage an.

Wird sie bei depressiven Patienten von den Krankenkassen erstattet?

Auch diese Frage muss ich leider verneinen. Wir setzen uns aber derzeit intensiv dafür ein, dass die Berührungstherapie als begleitende Behandlung in die offiziellen Leitlinien zur Therapie der Depressionen aufgenommen wird. Dann könnte sie auch eine Kassenleistung werden.

Wie wichtig ist es für den Erfolg der Behandlung, dass einem die Therapeutin oder der Therapeut sympathisch ist und man sich gerne von ihr oder ihm anfassen lässt?

Beides spielt zweifellos eine wichtige Rolle und deshalb werden seriöse Anbieter immer ein Vorgespräch offerieren, in dem sich genau das prüfen lässt. Viele Patienten, egal ob weiblich oder männlich, ziehen es vor, sich von einer Frau massieren zu lassen. Aber das ist natürlich eine sehr subjektive Entscheidung.

Können Berührungen von nahestehenden Menschen ähnlich positive Effekte erzielen?

Natürlich ist es großartig, wenn es einen Partner oder einen anderen Vertrauten gibt, der einen gerne streichelt oder massiert. Diese Form der Berührung wird bei Depressionen jedoch nicht die gleichen Effekte haben wie die psychoaktive Massage eines ausgebildeten Therapeuten. Eines wissen vermutlich trotzdem alle Menschen instinktiv: Wir können uns eigentlich gar nicht genug gegenseitig berühren. Zum Glücklichsein gehören Berührungen einfach dazu.