Schmerz: Wenn Gerüche den Schmerz auslösen
Jeder dritte Migränepatient reagiert besonders sensibel auf bestimmte Gerüche – auch zwischen den Kopfschmerzattacken. Was die Ursachen dafür sind und ob ein regelmäßiges Riechtraining helfen kann, untersucht ein Expertenteam aus Dresden.
In Deutschland leiden bis zu zehn Millionen Menschen unter Migräne. Dass viele von ihnen außergewöhnlich sensitiv auf Licht und Geräusche reagieren, ist seit Längerem bekannt. Zunehmend in den Fokus rückt nun die Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Gerüchen, wie sie nach Angaben der medizinischen Leitlinien zur Therapie der Migräne bei jedem zehnten Patienten auftritt.
Wann und wie häufig die sogenannte Osmophobie bei Migränepatienten vorkommt und wer besonders davon betroffen ist, untersuchten kürzlich Forscher des UniversitätsSchmerzCentrums (USC) und des Interdisziplinären Riechzentrums am Universitätsklinikum Dresden. Dabei fand das Team um die Privatdozentin Doktor Gudrun Goßrau, Leiterin der Kopfschmerzambulanz am Universitätsklinikum Dresden, heraus, dass vor allem Patienten mit längerer Erkrankungsdauer und höherer migränebedingter Alltagseinschränkung unter einer Geruchsüberempfindlichkeit leiden. Ermittelt wurde die Osmophobie anhand eines Fragebogens; die Belastung durch die Krankheit erfassten die Wissenschaftler mit dem MIDAS-Test (Migraine Disability Assessment Score), einem Instrument zur Beurteilung der funktionellen Beeinträchtigung bei Menschen mit Migräne. Die Studie zeigte, dass das Symptom der Geruchsüberempfindlichkeit bei Migränepatienten mit Aura doppelt so häufig vorkommt wie bei Migräne ohne Aura.
Überempfindlichkeit ist weit verbreitet
Die im Journal of Headache and Pain erschienene Querschnittstudie der Dresdner Forscher basiert auf einer Befragung von 99 Frauen und 14 Männern im Alter von 19 bis 78 Jahren. Alle 113 Studienteilnehmer litten unter episodischer oder chronischer Migräne. Von den Befragten berichteten 38,1 Prozent von einer erhöhten Geruchsempfindlichkeit unmittelbar vor einem Migräneanfall, 61,9 Prozent sind während der Kopfschmerzattacke von dem Symptom betroffen und 31,9 Prozent reagieren sogar zwischen den Migräneanfällen, also in beschwerdefreier Zeit, außergewöhnlich empfindsam auf bestimmte Gerüche. Bei nahezu jedem dritten Patienten kommt es zu geruchsgetriggerten Kopfschmerzattacken. Diese Ergebnisse legen nahe, dass viel mehr Patienten von einer Geruchsempfindlichkeit betroffen sind als bislang angenommen wurde.
Parfum, Zigarettenrauch und dicke Luft
Gudrun Goßrau, die ebenfalls Vizepräsidentin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft ist, berichtete kürzlich auf einer Pressekonferenz, dass gerade die kaum zu vermeidenden Alltagsgerüche den Befragten besonders zu schaffen machen: »Am häufigsten wurde süßes Parfüm genannt, gefolgt von Essensgerüchen, Abgasen und Zigarettenrauch. Aber auch abgestandene Raumluft oder der Duft von Blumen können belastend sein.« Um herauszufinden, ob Migränepatienten womöglich über eine feinere Nase verfügen als gesunde Menschen, führte das Dresdner Expertenteam bei den Studienteilnehmern einen Geruchswahrnehmungstest durch. Da Alter und Geschlecht das Riechvermögen beeinflussen, verglichen die Wissenschaftler die Ergebnisse mit jenen von ähnlich zusammengesetzten Gruppen von Menschen ohne Migräne. »Zu unserem Erstaunen zeigte sich, dass Menschen mit Migräne im Vergleich zu Gesunden eine deutlich schlechtere Geruchswahrnehmung besitzen«, berichtete Goßrau.
Eng vernetzte Systeme im Kopf
Auf der Suche nach möglichen organischen Ursachen stieß das Expertenteam auf zwei Studien, die Struktur und Form des Riechkolbens mittels Magnetresonanztomografie (MRT) untersuchten. Der Riechkolben ist ein wesentliches Element des Riechsystems im Gehirn. Er ist bei Migränepatienten, so ein Ergebnis der beiden Studien, im Volumen kleiner als bei gesunden Menschen. »Das passt zu dem Befund eines schlechteren Riechvermögens«, sagte Goßrau bei der Pressekonferenz. Die Dresdner Neurologin wies auf eine weitere feingewebliche Untersuchung hin, derzufolge die Riechschleimhaut von sensorischen Fasern des Trigeminusnervs durchzogen ist. Dieser Nerv spielt eine wesentliche Rolle bei der Übertragung von Migräneschmerzsignalen. Die enge Vernetzung der beiden Systeme dürfte dazu beitragen, dass Gerüche bei manchen Menschen Kopfschmerzen auslösen. Neue Erkenntnisse erhofft sich das Team um Goßrau auch von der eigenen Grundlagenforschung.
Was ein Riechtraining vermag
Migränepatienten, die unter Osmophobie leiden, sollten die ihnen bekannten Geruchstrigger möglichst vermeiden, sagte Gudrun Goßrau. Weil das im Alltag nicht immer gelingt, setzt sie mit ihrem Team auf Duft-Desensibilisierung mithilfe eines strukturierten Riechtrainings. Erprobt wurde es zunächst in einer Pilotstudie mit Kindern und Jugendlichen mit Migräne (siehe auch NTC Impulse, 2. Quartal 2022). Nachdem die Teilnehmer drei Monate lang zweimal täglich an stimulierenden Rosen- und Zitronendüften geschnuppert hatten, nahm bei ihnen die Intensität der Kopfschmerzen zwar nicht ab, aber die Schmerzwahrnehmungsschwelle erhöhte sich und die Zahl der Kopfschmerztage sank. Bestätigt wurden diese Ergebnisse in zwei placebokontrollierten Folgestudien, eine mit jugendlichen, die andere mit erwachsenen Patienten mit Migräne. Sollte sich das Riechtraining weiter bewähren, könnte es schon bald das Spektrum anerkannter nicht medikamentöser Kopfschmerztherapien bereichern, hofft Dr. Goßrau. Mit den Übungen lasse sich womöglich auch einer Chronifizierung von Migräneschmerzen entgegenwirken.