SCHMERZ: Wenn Nerven ständig schmerzen

Nervenfasern, die beschädigt oder in ihrer Funktion gestört sind, können mitunter zu unerträglichen Schmerzen führen. Gängige Schmerzmittel kommen gegen diese Beschwerden nicht an. Doch mit den richtigen Maßnahmen lassen sie sich zumindest so weit lindern, dass ein normales und erfülltes Leben wieder möglich ist.

Sie können wie Feuer brennen oder wie Nadeln stechen und machen denen, die an ihnen leiden, das Leben gelegentlich zur Hölle. Manchmal treten sie überfallartig, wie aus dem Nichts heraus auf und vergehen dann wieder, oft sind sie von Dauer. »Nervenschmerzen, auch neuropathische Schmerzen genannt, entstehen, wenn die sensiblen Fasern des zentralen oder des peripheren Nervensystems beschädigt oder in ihrer Funktion gestört sind«, erklärt Professor Helmar Lehmann, Direktor der Klinik für Neurologie des Klinikums Leverkusen. »Das unterscheidet sie von allen anderen Schmerzformen.«

Sind die peripheren Nerven geschädigt, sprechen Mediziner von einer Polyneuropathie. »Vielfach gehen die Schmerzen, die auch dumpf sein können, mit weiteren Symptomen, zum Beispiel Kribbeln oder Taubheit, einher«, sagt Lehmann. »Manche Patienten reagieren zudem auf leichte Reize wie Berührungen, Wärme oder Kälte mit starken Schmerzen.« Dieses Phänomen wird als Allodynie bezeichnet.

Neuropathische Schmerzen strahlen meist in diejenigen Körperbereiche aus, die von den in ihrer Funktion beeinträchtigten Nerven versorgt werden – etwa in die Arme, die Beine, den Rücken und in den Kopf. Bei einer Small-Fiber-Neuropathie, bei der vor allem die kleinen sensiblen Fasern des peripheren Nervensystems geschädigt sind, kommt es fast immer zu brennenden Schmerzen auf der Haut, insbesondere an Fingern und Zehen, der Nase und dem Kinn.

Die Ursachen sind vielfältig

Geschätzt leiden in Deutschland nach Angaben der Deutschen Schmerzliga etwa 300.000 Menschen an Nervenschmerzen. Die Ursachen sind vielfältig. »Oft sind ein Schlaganfall, Multiple Sklerose, Parkinson oder Diabetes die Auslöser«, sagt Lehmann. Auch nach Unfällen, Operationen und Chemotherapien, bei einem Bandscheibenvorfall, einer Gürtelrose, entzündlichen Erkrankungen oder nach langjährigem Alkoholmissbrauch kann es zu Neuropathien kommen. Die Trigeminus-Neuralgie, die mit heftigen Attacken meist einseitiger Gesichtsschmerzen verbunden ist, zählt ebenfalls zu den Nervenschmerzen. »Bei ihr ist der fünfte Hirnnerv, der Nervus Trigeminus, der das Gesicht versorgt, geschädigt«, erläutert Lehmann.

Greift das körpereigene Immunsystem versehentlich das Nervensystem an, sind Immunneuropathien eine mögliche Folge. Zu ihnen gehören beispielsweise das Guillain-Barré-Syndrom, kurz GBS, das durch Schmerzen und Muskelschwäche in den Beinen gekennzeichnet ist. Auch die CIDP, die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie, zählt zu den Immunneuropathien. Bei dieser Erkrankung kommt es allerdings nur selten zu starken Schmerzen. Charakteristisch für sie ist vielmehr eine geschwächte Arm- und Beinmuskulatur, die von Kribbeln und Taubheitsgefühlen begleitet sein kann.

Um Neuropathien zu behandeln, ist es wichtig, zunächst die Ursache für die Schmerzen herauszufinden. »Denn als erstes gilt es, die dahinterliegende Erkrankung bestmöglich zu behandeln«, sagt Lehmann. Fast ein Drittel aller Patienten mit Multipler Sklerose beispielsweise leiden, bedingt durch die entzündlichen Veränderungen im Gehirn, zusätzlich an neuropathischen Schmerzen. Bekommt man den Krankheitsprozess mithilfe immunmodulatorischer Medikamente gut in den Griff, wirkt sich dies auf alle Symptome, auch auf die Nervenschmerzen, positiv aus. Ist ein Diabetes der Auslöser, sollte zuerst der Blutzucker optimal eingestellt werden. Und wird ein schwerer Bandscheibenvorfall, der zum Beispiel auf den Ischiasnerv drückt, operiert, sind die Schmerzen in Rücken, Gesäß oder Bein nach dem Eingriff fast immer schlagartig weg.

Die Schmerzen lassen sich lindern

Bei den meisten Patienten mit neuropathischen Schmerzen ist es allerdings deutlich schwieriger, die Beschwerden zu beseitigen – insbesondere wenn diese bereits chronisch geworden sind. »Ein realistisches Ziel der Behandlung ist es, die Schmerzen so weit zu lindern, dass die Betroffenen wieder gut schlafen können und in ihrem Alltag nur wenig eingeschränkt sind«, sagt Lehmann. »Das kann beispielsweise bedeuten, dass sie wieder Spaziergänge unternehmen können oder in der Lage sind, an einem Abendessen teilzunehmen, ohne ständig aufstehen zu müssen.« Eine Schmerzreduktion von 30 bis 50 Prozent, sowohl im Hinblick auf die Dauer als auch auf die Stärke der Beschwerden, hält Lehmann mit einer guten Therapie für erreichbar.

Vor Beginn der Behandlung wird jeder Neurologe jedoch erst einmal eine genaue Diagnose stellen. »Um eine Neuropathie zu erkennen und in ihrem Ausmaß zu beurteilen, kann der Arzt eine Neurografie vornehmen«, erklärt Lehmann. Dabei wird vor allem die Geschwindigkeit gemessen, mit der die Nerven elektrische Reize weiterleiten. Eine Hautbiopsie kann Aufschluss über eine Small-Fiber-Neuropathie geben. »Und bei einem Verdacht auf Multiple Sklerose ist eine Kernspintomographie des Gehirns und des Rückenmarks oder eine Untersuchung des Nervenwassers angebracht«, ergänzt Lehmann.

Tabletten und Pflaster können helfen

Lindern lassen sich die Schmerzen mit ganz unterschiedlichen Medikamenten. »Zum einen setzen wir Wirkstoffe ein, die ursprünglich gegen Epilepsie entwickelt wurden, aber ganz unabhängig davon einen analgetischen, also schmerzlindernden Effekt haben«, sagt Lehmann. Zwei wichtige Vertreter sind beispielsweise die Wirkstoffe Gabapentin und Pregabalin. Beide verringern in den geschädigten Nervenzellen die unkontrollierte Weiterleitung elektrischer Signale, die die Schmerzen hervorrufen.

»Zum anderen gibt es Medikamente, die die Schmerzwahrnehmung verändern, die also direkt im Gehirn wirken«, sagt Lehmann. Diese schmerzmodulierenden Medikamente kamen anfangs aufgrund ihrer stimmungsaufhellenden Effekte ausschließlich in der Therapie von Depressionen zum Einsatz, bewährten sich dann aber, zumindest bei manchen Patienten, auch bei neuropathischen Schmerzen. Klassische Wirkstoffe dieser Art sind unter anderem Amitriptylin und Duloxetin.

Lokal begrenzte Nervenschmerzen lassen sich zudem mit speziellen Pflastern lindern. »Sie enthalten Wirkstoffe wie das örtlich betäubende Lidocain oder das aus der Chilischote gewonnene Capsaicin, das schmerzstillend und zugleich durchblutungsfördernd wirkt«, erläutert Lehmann. Opioide hingegen sind bei neuropathischen Schmerzen erst das Mittel der letzten Wahl. »Sie helfen gut bei gewöhnlichen, sogenannten nozizeptiven Schmerzen, die aufgrund von drohenden oder bereits vorhandenen Schäden im Gewebe entstehen«, sagt Lehmann. »Für die Therapie von Nervenschmerzen sind sie weniger gut geeignet.« Häufig unwirksam seien dagegen gängige Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure (ASS), Paracetamol, Ibuprofen, Diclofenac oder vergleichbare Wirkstoffe.

Ein Schmerztagebuch ist sinnvoll

Ergänzend zur medikamentösen Behandlung haben sich Verhaltenstherapien bewährt. »Dort erlernen die Patienten Strategien, die ihnen helfen, besser mit ihren Schmerzen umzugehen, und die zudem verhindern können, dass die Beschwerden chronisch werden«, erläutert Lehmann. Eine weitere hilfreiche Maßnahme könne es sein, ein Schmerztagebuch zu führen. »Manche Patienten stellen dadurch fest, dass ihre Schmerzen gar nicht so häufig und oft auch weniger stark sind, als es ihnen zuweilen vorkommt«, sagt Lehmann. Zudem lasse sich auf diese Weise ermitteln, ob beispielsweise Stress die Schmerzen verschlimmere. Dann könnten die Patienten ihren Beschwerden auch mit stressreduzierenden Verfahren entgegenwirken.

In ganz schweren Fällen, wenn Medikamente und andere Maßnahmen gar keinen Erfolg gebracht haben, kann ein Verfahren namens Neurostimulation in Frage kommen. Dazu wird den Patienten in spezialisierten Zentren ein Gerät, das etwa die Größe einer Stoppuhr hat und oft auch als Schmerzschrittmacher bezeichnet wird, in den Körper eingesetzt, meist unter der Haut am Bauch. »Dieser Stimulator schickt kleine elektrische Impulse an das Rückenmark und schaltet so bestimmte Schmerzbahnen aus – das heißt, er verhindert, dass Schmerzsignale das Gehirn erreichen«, erklärt Lehmann.

Anstelle der Schmerzen empfinden viele Patienten dann eher ein leichtes Prickeln oder Kribbeln in der betroffenen Region. Die Stärke und der Ort der Stimulation lassen sich über ein kleines Programmiergerät einstellen, angepasst an unterschiedliche Tageszeiten oder auch an verschiedene Tätigkeiten wie Sitzen, Laufen oder Schlafen.

»Wichtig für eine erfolgreiche Therapie neuropathischer Schmerzen ist vor allem, dass wir Ärzte unsere Patienten gut aufklären und diese sich auch selbst über ihre Krankheit umfassend informieren«, sagt Lehmann. »Wer versteht, woher die Schmerzen kommen, wie sie entstehen und auf welche Weise sie sich in welchem Ausmaß lindern lassen, kann in aller Regel viel besser mit ihnen umgehen.«