Multiple Sklerose: Im Überblick: Die neue Leitlinie MS

MRT-Untersuchungen sollen bedeutsamer für Therapieauswahl und Verlaufskontrolle werden. Das ist eine der Änderungen in der ärztlichen Leitlinie zu MS. Auch für die Prophylaxe und bei Kinderwunsch gibt es neue Empfehlungen.

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung mit vielen
Gesichtern. Ein wesentlicher Teil der Betroffenen lebt trotz der Diagnose ohne gravierende Einschränkungen. Für die meisten Patientinnen und Patienten gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten, die jahrzehntelang ein weitgehend normales Leben ermöglichen. Aber es gibt auch Fälle, in denen die Krankheit einen schweren Verlauf nimmt und zu erheblichen Einschränkungen führt. In seltenen Fällen treten die starken Behinderungen schon nach fünf bis zehn Jahren auf. »Ein Problem bei MS war bisher, dass wir Mediziner oft nur eine unsichere Prognose über den Langzeitverlauf machen konnten«, sagt Professor Bernhard Hemmer, Direktor der Klinik für Neurologie am Münchner TUM-Klinikum rechts der Isar.

Bessere Prognose erleichtert Therapie

Doch die Chance auf eine zuverlässige Prognose hat sich durch neue Standards für bildgebende Untersuchungen wie die MRT (Magnetresonanztomografie) deutlich verbessert. Die MRT macht Schäden (Läsionen) in der Schutzschicht von Nervenfasern in Gehirn und Rückenmark sichtbar, die das Immunsystem von MS-Patienten hervorruft. Die neuen Standards sind in die ärztliche Leitlinie zum Umgang mit MS eingeflossen. Sie wurde im November 2022 aktualisiert und steht jetzt auch online zur Verfügung.

Bernhard Hemmer koordiniert das Expertenteam, das aktuelle Forschungsergebnisse für die MS-Leitlinie auswertet. »Es gibt mehrere neue internationale Langzeitstudien, die wichtige Hinweise über den Verlauf der Erkrankung geben – dieses Wissen ermöglicht fundiertere Prognosen«, sagt der Münchner Neurologe. Die Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der entzündlichen Läsionen in der Anfangsphase der Erkrankung sowie der Geschwindigkeit, mit der sie sich entwickeln, und dem späteren Verlauf der MS.

Je mehr Informationen behandelnde Ärzte für die individuelle Prognose eines Patienten haben, desto besser können sie die Therapie planen. »Bei MS gibt es eine Gruppe von hochwirksamen Medikamenten, die idealerweise nur bei Patienten mit voraussichtlich schwerem Verlauf eingesetzt werden sollten, weil sie in seltenen Fällen schwerwiegende Nebenwirkungen haben«, erläutert Hemmer. Mithilfe der neuen Leitlinie könnten die zuständigen Ärzte nun besser ermessen, ob das erhöhte Risiko von Nebenwirkungen im einzelnen Fall gerechtfertigt sei.

MRT von Kopf und Rückenmark wichtig

Hilfreich ist dabei auch die neue Empfehlung, nicht nur eine MRT des Kopfes, sondern zusätzlich eine Aufnahme des Rückenmarks anzufertigen. »Läsionen in diesem Bereich werden für die Prognose als ungünstig eingestuft«, erläutert der Neurologie-Professor aus München.

Bildgebende Untersuchungen sollten, so eine weitere Empfehlung, idealerweise in einheitlicher Form und hoher Auflösung durchgeführt werden, um den Vergleich mit Kontrolluntersuchungen nach sechs und zwölf Monaten zu erleichtern. So lasse sich besser beurteilen, ob eine Therapie erfolgreich ist oder ob das Medikament gewechselt werden sollte. Bei der ersten MRT-Aufnahme plädiert die aktualisierte Leitlinie zudem für den gezielten Einsatz von Kontrastmitteln. »Diese Empfehlungen der Leitlinie werden noch nicht flächendeckend umgesetzt, da gibt es noch Luft nach oben«, mahnt Bernhard Hemmer.

Die Expertengruppe hat sich auch mit Wirkstoffen beschäftigt, die seit der letzten Leitlinien-Aktualisierung im Jahr 2021 neu als Medikament zugelassen wurden. Weitere Wirkstoffe befinden sich in der klinischen Studienphase 3 oder haben diese letzte Hürde vor der Zulassung bereits genommen. »Die hohe Zahl der Innovationen, die es derzeit im Bereich der Immuntherapie gibt, ist sehr erfreulich«, sagt Hemmer. Es sei daher nicht länger akzeptabel, die Leitlinie nur alle fünf Jahre auf den neuesten Stand zu bringen. Dementsprechend will die Expertengruppe ihre Empfehlungen für Ärzte fortan im Rhythmus von ein bis zwei Jahren aktualisieren. Auch MS-Patientinnen und Patienten sind an diesem Prozess beteiligt. Hemmer: »Das ist wichtig, denn Betroffene sehen manche Dinge gelegentlich anders als Ärzte.«

Vier neue Wirkstoffe werden in der aktualisierten Leitlinie besprochen. Sie geben den Ärzten mehr Möglichkeiten, ungünstige Nebenwirkungen zu vermeiden. Einige neue Präparate sind vorteilhaft, weil der Wirkstoff nicht als Pille geschluckt werden muss, sondern mit einer kleinen Spritze unter die Haut injiziert wird. Allerdings rät Bernhard Hemmer davon ab, eine gut funktionierende Therapie zu verändern, nur weil neue Medikamente auf dem Markt sind: »Wenn das Mittel gut vertragen wird und die Krankheitsaktivität komplett unter Kontrolle ist, dann gibt es keinen Grund, etwas anders zu machen.«

Die Pharmaforschung hat in den vergangenen Jahren vor allem für MS-Patienten, deren Erkrankung in wiederkehrenden Schüben verläuft, zahlreiche neue Präparate entwickelt, die auf unterschiedliche Art und Weise in den Krankheitsverlauf eingreifen. Sie sind nicht ohne Nebenwirkungen, aber sie können die Krankheitsaktivität auf ein sehr niedriges Niveau oder sogar ganz auf Null reduzieren. Bernhard Hemmer: »Zusammen mit den besseren Möglichkeiten der Diagnostik können Ärzte nun eine Immuntherapie vorschlagen, die sich am individuellen Risikoprofil des Patienten orientiert und den prognostizierten weiteren Verlauf berücksichtigt.« Diese differenzierte Therapie sei für MS sehr wichtig und diesem Grundgedanken sei die neue Leitlinie verpflichtet.

Prävention steigert Lebensqualität

Ärzte und Patienten erhalten darin auch Tipps für eine bessere Vorsorge. Angesichts der Erfolge in der Immuntherapie sei das Thema Prävention früher manchmal vernachlässigt worden, räumt Hemmer ein. Für MS-Patienten sei es aber wichtig, beispielsweise durch Sport oder geistiges Training rechtzeitig Reserven aufzubauen, damit die Lebensqualität auch bei einem erneuten Schub erhalten bleibe. So könne der Langzeitverlauf der Krankheit positiv beeinflusst werden.

Für jüngere Patientinnen und Patienten ist Familienplanung ein wichtiges Thema. Die Leitlinie geht daher auch auf den Zeitraum ein, der zwischen dem Aussetzen einer Therapie und dem Beginn einer unproblematischen Schwangerschaft liegen sollte. Bisher galten sechs Monate als Regel. Doch bei einigen der besonders häufig eingesetzten Medikamente kann diese Zeit Studien zufolge auf zwei bis vier Monate verkürzt werden. Auch die neue Leitlinie bekräftigt: Es gibt keinen Grund, warum Menschen mit MS keine Familie gründen sollten.