SCHMERZ: Wenn die Welt ins Wanken gerät

Bei fast einem Viertel aller Patienten, die an Schwindel leiden, lässt sich keine organische Ursache ausmachen. Dennoch sind die Beschwerden alles andere als eingebildet. Stress oder belastende Ereignisse sind mögliche Auslöser. Eine Psycho- oder Verhaltenstherapie kann helfen – am besten in Kombination mit Übungen, die das Gleichgewicht trainieren.

Plötzlich scheint sich alles um einen herum zu drehen, fast so, als sitze man in einem Karussell. Oder es schwankt wie auf einem Schiff in wogender See. Zuweilen hat man auch den Eindruck, man falle in die Tiefe oder werde von einem Sog nach unten gezogen. Schwindel kann sich sehr unterschiedlich bemerkbar machen.

Mediziner sprechen bei den einzelnen Varianten vom Dreh-, Schwank- oder Liftschwindel. Letzterer kommt eher selten und hauptsächlich im Liegen vor. Begleitet werden alle drei Formen fast immer von einem Gefühl der Benommen- und Unsicherheit, manchmal auch von Übelkeit. Das äußere und innere Gleichgewicht scheint in diesen Momenten verloren zu sein.

Geschätzt leiden rund 20 Prozent aller Menschen in Deutschland zumindest zeitweilig unter Schwindel. Vertigo, wie das Phänomen in der Fachsprache heißt, zählt zu den 20 häufigsten Gründen, weswegen Patienten einen Hausarzt aufsuchen. Er entsteht immer dann, wenn die Informationen, die das Gehirn von den drei am Gleichgewichtssinn beteiligten Sinnesorganen erhält, nicht übereinstimmen.

Gestörtes Zusammenspiel

In den meisten Fällen steckt eine organische Ursache hinter den Schwindelattacken. Das bedeutet, dass einer der Informationskanäle für den Gleichgewichtssinn nicht richtig funktioniert und deshalb dem Gehirn fehlerhafte Signale sendet. Störfaktoren können entweder die Augen, die Gleichgewichtsorgane im Innenohr oder die Rezeptoren der Tiefensensibilität, die Propriozeptoren, sein. Letztere nehmen wahr, welche Lage die einzelnen Körperteile, vor allem die Gliedmaßen, im Raum einnehmen. Bekannt ist die Tiefensensibilität, ohne die gezielte Bewegungen unmöglich sind, auch als sechster Sinn. Beeinträchtigt ist sie zum Beispiel mitunter bei einer Polyneuropathie.

»Manchmal lässt sich allerdings gar keine und nicht selten zumindest keine ausreichend erklärende organische Ursache für den Schwindel ausmachen«, sagt Professor Claas Lahmann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. »In einem solchen Fall sprechen wir von einem funktionellen Schwindel, bei dem das Zusammenspiel der am Gleichgewichtssinn beteiligten Organe aus irgendeinem Grund gestört ist.«

Vielen Menschen ist der funktionelle Schwindel auch unter dem Begriff psychogener Schwindel bekannt. »Von dieser Bezeichnung haben wir uns inzwischen aber abgewandt«, sagt Lahmann. »Denn sie impliziert, dass sich hinter dem Schwindel stets eine gestörte Psyche verbirgt.« So einfach sei es aber nicht: »Auch Menschen, die seelisch völlig gesund sind, können am funktionellen Schwindel leiden«, erklärt der Mediziner.

Allerdings sind psychische Krankheiten, insbesondere Angststörungen und Depressionen, häufige Begleiterkrankungen des funktionellen Schwindels. »Im Gehirn liegen die Regionen, in denen Schwindel oder Angst verarbeitet und erlebt werden, sehr dicht beieinander«, erläutert Lahmann. Aus diesem Grund kann Schwindel leicht zu Angst führen. Umgekehrt können Situationen, die einem Menschen Angst machen, schnell Schwindelgefühle hervorrufen. Ähnliches gilt, in etwas abgestufter Form, für Depressionen.

Frauen sind häufiger betroffen

Stress und belastende Lebensereignisse sind ebenfalls häufige Auslöser des funktionellen Schwindels. »Wir stellen immer wieder fest, dass er vermehrt in Lebensphasen auftritt, in denen wichtige Veränderungen anstehen – etwa nach Abschluss der Schule oder des Studiums, beim Eintritt ins Berufsleben, bei der Gründung einer Familie oder bei Erreichen des Rentenalters«, berichtet Lahmann. Anders als organische Schwindelerkrankungen, die mit steigendem Alter häufiger werden, ist der funktionelle Schwindel in allen Altersgruppen ähnlich oft zu finden. Allerdings sind Frauen fast doppelt so oft von ihm betroffen wie Männer: Das Verhältnis der Geschlechter beträgt etwa zwei Drittel zu einem Drittel.

Ein weiterer Risikofaktor ist eine vorausgegangene organische Schwindelerkrankung. »Obwohl die eigentliche Ursache, zum Beispiel ein gutartiger Lagerungsschwindel mit einer Ablösung kleiner Ohrensteinchen im Innenohr, längst abgeklungen ist, bleibt das Schwindelerleben zuweilen bestehen«, sagt Lahmann. »Wir bezeichnen das als sekundär funktionellen Schwindel, der allerdings ganz ähnlich wie die primäre Variante behandelt wird.«

Manchmal dauert das Schwindelgefühl nur einige Sekunden oder Minuten und vergeht dann wieder. Oft hält es aber auch für mehrere Stunden oder gar Tage und Wochen an und ist dann lediglich mal mehr, mal weniger intensiv. Bei manchen Patienten tritt der Vertigo auch nur in bestimmten, oft angstbesetzten Situationen auf, etwa in der Enge eines überfüllten Supermarkts oder einer Straßenbahn oder auch in den vorderen Reihen eines Kinos.

Als Erstes zum Hausarzt

Um zu klären, was genau den Schwindel auslöst und ob sich nicht doch eine organische Ursache dahinter verbirgt, sind der Hausarzt und ein Neurologe oder ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt zunächst die wichtigsten Ansprechpartner. Auch ein Augenarzt ist für eine exakte Diagnose in manchen Fällen hilfreich. Gemeinsam prüfen die Mediziner, ob die für den Gleichgewichtssinn wichtigen Sinnesorgane intakt sind und dem Gehirn die richtigen Informationen über die Lage und Stellung des Körpers im Raum liefern.

»Kommen die Ärzte zu dem Schluss, dass keine Fehlfunktion der Organe vorliegt, sollte dies allerdings kein Grund zum Abwarten und Nichtstun sein«, sagt Lahmann. »Spätestens wenn der Schwindel bereits seit drei Monaten besteht, ohne dass eine klar fassbare organische Ursache gefunden wurde, ist es ratsam, einen Facharzt für Psychosomatische Medizin hinzuzuziehen.«

Dieser klärt zunächst ab, ob beispielsweise Stress oder einschneidende Veränderungen im Leben des Patienten die Auslöser des Schwindels sein könnten. »Ein typisches Merkmal des funktionellen Schwindels ist zudem, dass er sich in Situationen bessert, die den Gleichgewichtssinn fordern«, sagt Lahmann. Er kenne zum Beispiel ambitionierte Mountainbiker, die ihren Sport zwar problemlos ausüben können. Doch nach dem Absteigen kehre der Schwindel regelmäßig zurück.

Auch wenn sich die Schwindelanfälle durch den Konsum geringer Mengen Alkohol, etwa eines Glases Wein oder Bier, bessern, ist dies Lahmann zufolge meist ein deutliches Zeichen für einen funktionellen Schwindel. Das heißt aber natürlich nicht, dass man versuchen sollte, den Schwindel regelmäßig mithilfe von Alkohol zu verscheuchen.

»Eine gute Therapie des funktionellen Schwindels ist multimodal und enthält sowohl psycho- als auch physiotherapeutische Verfahren«, sagt Lahmann. Ein wichtiger Bestandteil ist stets entweder eine Psychotherapie, die auch tiefenpsychologische Elemente enthalten kann, bei denen der Fokus auf unbewussten seelischen Abläufen liegt, oder aber eine Verhaltenstherapie. »Bei beiden Therapieformen soll der Patient in erster Linie lernen, schwindelerregende Situationen nicht zu vermeiden, sondern sich ihnen bewusst zu stellen«, erklärt Lahmann.

Eine Verhaltenstherapie ist in der Regel deutlich aktiver als eine tiefenpsychologische Psychotherapie. Um alte Muster abzulegen und neue zu erlernen, verlässt der Patient dabei mitunter auch das Behandlungszimmer, um gemeinsam mit dem Therapeuten den schwindelerregenden oder angsteinflößenden Situationen schrittweise zu begegnen und sie zu bewältigen. »Oft hilft es den Betroffenen auch schon, wenn sie erfahren, dass der Schwindel zwar unangenehm, aber nicht gefährlich ist«, sagt Lahmann.

Augen zu beim Zähneputzen

Sehr hilfreich sei es dann, solche Situationen gezielt immer wieder in den eigenen Alltag einzubauen. »In der Straßenbahn zum Beispiel kann man sich absichtlich entgegen der Fahrtrichtung hinsetzen«, erläutert der Mediziner. »Oder man schließt beim Zähneputzen die Augen oder stellt sich auf ein Bein.« Schon solch kleine Übungen stärken Lahmann zufolge die Selbstwirksamkeit, das heißt die Überzeugung, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Dem Schwindel wirkt diese Einstellung oft erfolgreich entgegen.

Begleitend sollte nach Möglichkeit eine Physiotherapie erfolgen, in der das Gleichgewicht spielerisch trainiert wird. Zum Einsatz kommen hier unter anderem spezielle Balance-Boards, -Pads oder -Bälle, die auch zu Hause genutzt werden können. In der Freizeit helfen zudem Sportarten, für die ein gutes Gleichgewicht erforderlich ist. Fahrradfahren, Inlineskaten und Reiten sind nur einige Beispiele. Wer es lieber etwas ruhiger angehen möchte oder muss, für den kommen Yoga oder Pilates in Frage.

Medikamente hingegen haben in der Therapie des funktionellen Schwindels wenig bis gar keinen Platz. »In Einzelfällen können zeitlich begrenzt Substanzen wie Antihistaminika zum Einsatz kommen, die dämpfend auf das Gleichgewichtssystem wirken«, sagt Lahmann. Einer langfristigen Besserung des Schwindels stehen sie aber eigentlich eher im Wege. Zudem haben sie teilweise unangenehme Nebenwirkungen wie zum Beispiel starke Müdigkeit.

Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen, die den Schwindel beide verstärken können, sollten hingegen durchaus auch medikamentös behandelt werden. »Dafür eignen sich vor allem sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, abgekürzt SSRI, die wirksam und in aller Regel gut verträglich sind«, sagt Lahmann.

Wie lange die Schwindeltherapie erfolgen muss, ist individuell sehr unterschiedlich. Ein paar Monate sind allerdings, möchte man eine nachhaltige Linderung erzielen, das Minimum. »Man muss ehrlicherweise sagen, dass der funktionelle Schwindel keine leicht zu behandelnde Krankheit ist«, räumt Lahmann ein. »Die Chancen auf Besserung sind allerdings sehr gut, die auf Heilung im Einzelfall vorab oft schlecht abzuschätzen.« Die Neigung zum Schwindel könne bei vielen Menschen ein Leben lang eine Schwachstelle bleiben.

Umso wichtiger sei es jedoch, schwindelerregende Situationen nicht zu vermeiden, sondern sich ihnen immer wieder aufs Neue zu stellen. »Wenn wir unser Gleichgewichtssystem schonen, wird es mit der Zeit immer empfindlicher«, betont Lahmann. Wenn das nicht ein guter Grund ist, beim nächsten Spaziergang mal wieder wie ein Kind auf der Bordsteinkante oder auf einem Baumstamm entlang zu balancieren! ab