SCHMERZ: Schweres Erbe: Wenn die Krankheit in den Genen liegt
Viele neurologische Leiden gehen auf Fehler im Erbgut zurück. Ist nur ein einzelnes Gen verändert, das die Krankheit verursacht, sprechen Mediziner von einer neurogenetischen Erkrankung. Die meisten von ihnen sind selten, daher zum Teil nur wenig bekannt, aber mitunter trotzdem schon gut zu behandeln. Für andere, etwa genetisch bedingte Formen von Parkinson, suchen Ärzte und Wissenschaftler intensiv nach neuen Therapiemethoden. Klinische Studien laufen bereits.
Der Mensch besitzt, so schätzen Forscher, rund 25.000 Gene – also Abschnitte im Erbgut, die die Bauanleitung für ein ganz bestimmtes Protein enthalten. Wenn nur ein einziges dieser Gene krankhaft verändert ist, kann das für ihren Träger mitunter drastische Folgen haben.
Auch viele neurologische Erkrankungen werden durch eine Veränderung in einem Gen, eine Mutation, hervorgerufen. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Spinale Muskelatrophie, kurz SMA, eine erbliche Form der Muskelschwäche. Für ihre schwerste Form, die SMA vom Typ 1, wurde vor einigen Jahren eine Gentherapie entwickelt. Diese fand unter anderem auch deshalb so viel Beachtung, weil es sich bei der für sie verabreichten Infusion um das vermutlich teuerste Medikament der Welt handelt (siehe Kasten).
Mangel im Gehirn
Andere neurogenetische Erkrankungen sind, auch unter Ärzten, weniger bekannt. Für die Patienten ist das insbesondere dann ein Nachteil, wenn es für ihr Leiden eigentlich eine gute und auch preiswerte Behandlungsmöglichkeit gibt, diese aber nicht zum Einsatz kommt, weil für die Beschwerden eine völlig andere Ursache als ein fehlerhaftes Gen vermutet wird.
Ein Beispiel für eine solche Erkrankung ist die Dopa-responsive Dystonie, kurz DRD, nach ihrem Entdecker, dem japanischen Neurologen Dr. Masaya Segawa, auch Segawa-Syndrom genannt. Ursache für diese Bewegungsstörung, bei der die Füße und Beine im Tagesverlauf meist zunehmend verkrampfen, wodurch es zu Schwierigkeiten vor allem beim Gehen kommt, ist eine Genmutation auf dem Chromosom 14. Sie führt dazu, dass die Betroffenen nur geringe Mengen Dopamin bilden und es somit in ihrem Gehirn zu einem Mangel dieses Botenstoffs kommt.
»Mit geringen Mengen Levodopa, das in höheren Konzentrationen auch bei Parkinson-Patienten eingesetzt wird, lässt sich eine DRD sehr gut behandeln – und zwar ein Leben lang, sodass die Betroffenen kaum noch Beschwerden haben«, sagt Professorin Christine Klein, Direktorin des Instituts für Neurogenetik des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) am Standort Lübeck. »Meine älteste Patientin behandele ich mittlerweile erfolgreich seit 30 Jahren«, berichtet Klein. »Sie ist inzwischen über 80 Jahre alt und treibt immer noch Sport.«
Eine andere DRD-Patientin hatte weniger Glück. »Weil man bei ihr eine orthopädische Ursache für die Gangstörungen vermutete, wurde sie als Kind insgesamt neun Mal an den Füßen operiert – leider natürlich völlig erfolglos«, erzählt die Neurogenetikerin. Ein recht deutlicher Hinweis auf die Erkrankung sei es, wenn die Beschwerden im Tagesverlauf zunehmen, sagt Klein. Eine sichere Diagnose lasse sich bei einem entsprechenden Verdacht allerdings nur mithilfe eines Gentests stellen.
Klein geht davon aus, dass sich inzwischen rund zehn Prozent der seltenen neurologischen Erkrankungen, von denen die allermeisten genetisch bedingt sind, gut behandeln lassen. Zu ihnen gehört auch die Wilson-Krankheit, bei der die Leber aufgrund eines defekten Gens nicht in der Lage ist, das Spurenelement Kupfer über den Gallensaft abzugeben.
»Das überschüssige Kupfer lagert sich dann unter anderem im Gehirn ab, wodurch es zu vielfältigen Beschwerden, etwa Zittern, unkontrollierbaren Bewegungen sowie Sprech- und Schluckbeschwerden, kommen kann«, erläutert Klein. Kupferbindende Medikamente wie Penicillamin und Trientin oder auch Zinkpräparate, die verhindern, dass der Körper Kupfer aufnimmt, können die Symptome beseitigen oder zumindest abmildern.
Alzheimer durch fehlerhafte Gene
Manche neurogenetische Erkrankungen verstecken sich auch in der Menge der häufigen neurologischen Leiden. So ist beispielsweise einer von etwa hundert Alzheimer-Patienten an einer genetischen Variante erkrankt, bei der die Demenz bereits zwischen dem 30. und 65. Lebensjahr ausbrechen kann. Derzeit sind drei Gene bekannt, die, wenn sie verändert sind, zu dieser familiären Alzheimer-Demenz, kurz FAD, führen können.
Die Mutationen, die auch einzeln alle den sicheren Ausbruch der Krankheit zur Folge haben, lassen sich mit einem Gentest zweifelsfrei nachweisen. »Da Alzheimer bislang nicht heil- und auch nur schlecht behandelbar ist, sollte dieser Schritt, wenn noch keine Symptome bestehen, allerdings gut überlegt sein«, rät Klein.
Häufiger als die genetisch bedingte Alzheimer-Demenz sind Formen der Parkinson-Erkrankung, die auf ein verändertes Gen zurückzuführen sind. »Die Zahl der Parkinson-Patienten ist in den vergangenen Jahren aus noch überwiegend ungeklärten Gründen stark gestiegen«, sagt Klein. »Und zwei große Studien mit insgesamt mehr als 20.000 Patienten haben kürzlich gezeigt, dass etwa 15 Prozent der Erkrankungen eine genetische Ursache oder zumindest einen ganz starken genetischen Risikofaktor aufweisen.«
Zielgerichtete Therapien
Veränderungen im GBA1-Gen zählen zu den häufigsten genetischen Risikofaktoren für Parkinson. Weltweit versuchen Ärzte und Wissenschaftler derzeit, die Mutationen und ihre Auswirkungen auf den Organismus besser zu verstehen. Ziel sei es, geeigneten Patienten eine Teilnahme an klinischen Studien mit individuell passenden Therapieansätzen anzubieten, sagte Dr. Kathrin Brockmann, Oberärztin und Leiterin der Parkinson-Ambulanz am Universitätsklinikum Tübingen, beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen (DPG). Zahlreiche Studien sei bereits im Gange.
»In einer Studie wird zum Beispiel ein altes Hustenmittel, der schleimlösende Wirkstoff Ambroxol, bei Patienten mit verändertem GBA1-Gen erprobt«, berichtet die Kieler Neurowissenschaftlerin Christine Klein. Es gebe nämlich Hinweise darauf, dass Ambroxol in hoher Dosierung die Folgen des Gendefekts mildern könne.
Auch für Patienten mit einer Mutation im LRRK2-Gen, die sich bei knapp zwei Prozent aller an Parkinson erkrankten Menschen findet, ist vor wenigen Monaten eine klinische Studie angelaufen. Die Genveränderung erhöht die Aktivität eines bestimmten Enzyms und fördert das Fortschreiten der Erkrankung. Der jetzt erprobte Wirkstoff soll diese Entwicklung bremsen.
Darüber hinaus laufen derzeit erste Studien mit Impfungen gegen fehlgefaltete Formen des Proteins Alpha-Synuclein, das bei Parkinson oft, aber nicht immer vermehrt im Gehirn zu finden ist. Man stehe daher jetzt vor der großen Herausforderung, vorherzusagen, welche Patienten besonders große Mengen dieses veränderten Moleküls aufweisen, sagte Brockmann auf dem DPG-Kongress. Besonders häufig der Fall ist das bisherigen Erkenntnissen zufolge bei Patienten mit Mutationen in den oben genannten Genen GBA1 und LRRK2. Nicht nachweisen lässt sich das Molekül bislang bei Patienten mit anderen Genveränderungen, die auch mit Parkinson in Verbindung gebracht werden. Ihnen würde eine Impfung also nicht helfen.
Nicht alle Patienten werden getestet
Noch werden Menschen, die an Parkinson erkrankt sind, nicht routinemäßig auf Genveränderungen untersucht. Derzeit werden die Tests vorrangig Patienten mit einem frühen Erkrankungsalter angeboten oder solchen, bei denen Parkinson gehäuft in der Familie vorkommt. Entsprechende Empfehlungen enthält die jüngst erschienene ärztliche Leitlinie Parkinson-Krankheit.
Die Neurowissenschaftlerin Christine Klein weist darauf hin, dass ein Gentest auch vor einer geplanten Tiefen Hirnstimulation sinnvoll sein kann. Es habe sich nämlich herausgestellt, dass das Verfahren bei verschiedenen erblichen Parkinsonformen unterschiedlich gut funktioniere. Als Wissenschaftlerin interessiert sich Klein insbesondere auch für die Frage, warum manche Menschen mit einem veränderten Gen erkranken, andere hingegen trotz der gleichen Mutation ganz offenbar davor geschützt sind. »Bei Parkinson scheint es zum Beispiel eine entscheidende Rolle zu spielen, wie gut die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle, arbeiten«, sagt Klein. »Funktionieren sie beziehungsweise der Abbau nicht mehr ausreichend aktiver Mitochondrien einwandfrei, scheint das die Träger der GBA1- und LRRK2-Mutation zu einem gewissen Grad vor dem Ausbruch der Krankheit zu schützen.«
Medizinisch anwenden lässt sich dieses Wissen bisher zwar noch nicht. Bei einer anderen neurologischen Bewegungsstörung, der Myoklonus-Dystonie, sieht das jedoch zum Beispiel schon etwas anders aus. »Man hat herausgefunden, dass nur die Kinder von Vätern mit einem mutierten Gen erkranken, weil das mütterliche Gen im menschlichen Körper gar nicht abgelesen und in Proteine umgewandelt wird«, erklärt Klein. Für die humangenetische Beratung ist das von großer Bedeutung: »Jungen Frauen, die sich ein Kind wünschen und die Mutation besitzen, können wir heute mit gutem Gewissen vorhersagen, dass ihr Baby zumindest in dieser Hinsicht höchstwahrscheinlich gesund sein wird.«
Vorreiter der Gentherapie
Die Spinale Muskelatrophie, kurz SMA, wird durch einen Fehler im SMN1-Gen hervorgerufen, das auf dem 5. Chromosom liegt. Fehlt das von dem Gen abgelesene Protein, sterben im Rückenmark nach und nach Nervenzellen ab, die für die Bewegung der Muskeln zuständig sind. Die ungenutzte Muskulatur wird daraufhin zunehmend schwächer. Ein Test auf SMA ist in Deutschland seit Oktober 2021 Teil des Neugeborenen-Screenings.
Ein weiteres Gen namens SMN2 kann geringere Mengen des SMN-Proteins ebenfalls produzieren. Je nachdem, wie viele Kopien des SMN2-Gens im Erbgut vorhanden sind, tritt die Erkrankung in leichteren oder schwereren Formen auf. Als schwerste Form gilt die SMA vom Typ 1. Unbehandelt sterben die betroffenen Kinder schon mit ein bis zwei Jahren an Atemschwäche.
Seit dem Jahr 2017 ist in Deutschland das Medikament Nusinersen zugelassen. Es zählt zu den sogenannten Antisense-Oligonukleotiden (ASO), die die Aktivität von Genen beeinflussen. Nusinersen, das zunächst im Abstand von wenigen Wochen, später alle vier Monate in den Wirbelkanal injiziert werden muss, bewirkt, dass das SMN2-Gen vermehrt abgelesen und in das SMN-Protein umgewandelt wird.
»Die Entwicklung von Nusinersen war ein echter Meilenstein«, sagt Professor Albert Ludolph, Ärztlicher Direktor der Neurologie an den RKU – Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm. »Wir können damit sowohl Kinder als auch Erwachsene mit SMA behandeln – und bei allen wird der Krankheitsverlauf zumindest gestoppt.«
Der seit 2021 zugelassene Wirkstoff Risdiplam steigert ebenfalls die Aktivität des SMN2-Gens. Er ist als Pulver erhältlich und wird täglich in Wasser aufgelöst getrunken, was die Anwendung erleichtert und das Risiko von Verletzungen oder Infektionen minimiert. »Leider fehlen noch gute Vergleichsstudien zu der Frage, ob Nusinersen oder Risdiplam wirksamer ist«, sagt Ludolph. »Derzeit orientieren wir uns daher vornehmlich an den Wünschen der Patienten.«
Der dritte Wirkstoff Onasemnogen-Abeparvovec ist hierzulande seit 2020 zugelassen und wird einmalig in die Blutbahn injiziert. Die Behandlung, bei der ein modifiziertes Virus intakte Versionen des SMN1-Gens in die Zellkerne einschleust, zählt zu den echten Gentherapien. Die Infusion gilt mit ihrem Preis von derzeit rund 2,3 Millionen Euro als vermutlich teuerstes Medikament der Welt.
»Ihre Entwicklung war ein unglaublicher Durchbruch«, sagt Ludolph. Allerdings müsse die Behandlung noch optimiert werden. »Die meisten Patienten werden mit ihr noch nicht ganz gesund, zudem ist die Therapie nicht selten schädlich für die Leber.« Weltweit wurden bislang zwei Fälle bekannt, bei denen die behandelten Kinder an Leberversagen starben. »Wir müssen für alle drei Medikamente etwa noch die optimale Behandlungsdosis herausfinden«, sagt Ludolph. Zudem gebe es Überlegungen, die Gentherapie mit einer sich anschließenden Behandlung mit Nusinersen oder Risdiplam zu kombinieren. Zugelassen seien solche Kombinationstherapien aber noch nicht.