Multiple Sklerose: Paten für die erste schwere Zeit

Zu Beginn einer Multiplen Sklerose tauchen oft viele Fragen, Ängste und Zweifel auf. Nadja Birkenbach-von Kuzenko, die 2015 selbst an MS erkrankte, hat daher ein Patenprogramm ins Leben gerufen. Frisch diagnostizierte Patienten bekommen dort einen Menschen mit MS zur Seite gestellt, der bereits einen guten Umgang mit der Erkrankung gefunden hat.

Sie erinnert sich noch gut an diesen Tag im Dezember 2021. »Ich kam gerade aus der MS-Ambulanz der Klinik und traf auf der Straße eine völlig verzweifelte junge Frau, die soeben ihre MS-Diagnose erhalten hatte«, erzählt Nadja Birkenbach-von Kuzenko. »Sie hatte so viele Fragen und Ängste – und zwar genau jene, die mich am Anfang meiner Erkrankung auch geplagt hatten.«

Ihr selbst sei es zu dieser Zeit bereits sehr gut gegangen, berichtet die 48-Jährige. In der MS-Ambulanz sei sie nur für eine Untersuchung gewesen, die im Rahmen einer klinischen Studie vorgenommen wurde. »Also redete ich auf die junge Frau ein, erklärte ihr eindringlich, dass man auch mit MS ein gutes Leben führen kann, und bat sie, mich anzurufen, wenn ihre Ängste und Sorgen überhandnehmen.«

Ihre eigene MS-Diagnose erhielt Nadja Birkenbach-von Kuzenko im September 2015. »Ich sah damals plötzlich alles doppelt und beim Gehen wackelte das Bild meiner Umgebung vor meinen Augen hin und her«, erzählt die berufstätige Frau, die auch Mutter von zwei Kindern ist. Bei ihr hatte das Immunsystem damit begonnen, die Augen anzugreifen.

»Einmal konnte ich im Spiegel meine Wange und Augenbraue nicht mehr sehen«, sagt sie. »Es war so beängstigend.« Die Augenärztin, die sie daraufhin in Begleitung einer Freundin aufgesucht hatte, schickte Birkenbach-von Kuzenko in die Notaufnahme des Klinikums rechts der Isar in München. Nach einer MRT des Kopfes und einer Lumbalpunktion stand die Diagnose fest.

Seit Jahren ohne Schub

»Ich lag im Krankenhausbett und habe nur noch geweint«, sagt Birkenbach-von Kuzenko. »So viele Fragen kreisten in meinem Kopf: Wie geht mein Leben nun weiter? Werde ich bald im Rollstuhl sitzen? Wie erzähle ich es meinen Kindern? Spreche ich mit meinem Chef, meinen Kollegen und mit Freunden oder Bekannten darüber? Wie werden sie reagieren? Wie hilflos werde ich bald sein? Was wird aus meinen Hobbys?«

Auf fast alle diese Fragen hat Birkenbach-von Kuzenko inzwischen eine Antwort gefunden. Sie entschloss sich schnell, ganz offen mit ihrer Erkrankung umzugehen, und ist sowohl privat als auch im Job auf viel Unterstützung und Verständnis gestoßen. »Auch meiner damals 13-jährigen Tochter und meinem 11-jährigen Sohn habe ich – eher beiläufig – erklärt, dass ich MS habe und was dabei ungefähr im Körper passiert.«

Damals wie heute strahlte sie viel Zuversicht aus. »Die moderne Medizin hat inzwischen so viel erreicht«, sagt sie. »Ich bin jetzt dank meines Medikaments seit fünf Jahren schubfrei und nach wie vor berufstätig. Mir geht es gut, ich treibe mehrmals in der Woche Sport und achte darauf, mich gesund zu ernähren.«

Für ein aktives Leben

All das war nicht immer so. »Nach einer ersten Stoßtherapie mit Kortison begann die Suche nach einem für mich passenden immunmodulierenden Wirkstoff«, berichtet Birkenbach-von Kuzenko. Die ersten drei Medikamente vertrug sie nicht gut. »Anschließend brauchte ich erst mal eine Pause«, sagt sie. Der nächste Krankheitsschub ließ daraufhin nicht lange auf sich warten. »Ich habe dann noch ein weiteres Medikament ausprobiert – mit ihm lebe ich seit 2018 nahezu frei von Krankheitssymptomen und Nebenwirkungen.«

Birkenbach-von Kuzenko ist sich sicher, dass früher oder später jeder MS-Patient das Medikament findet, das ihm am besten hilft. In dem von ihr initiierten Patenprogramm werden medizinische Fragen allerdings ausgeklammert. »Diese sollen den Ärzten vorbehalten bleiben«, sagt sie. »Wir Paten möchten uns ausschließlich den Ängsten und Sorgen des Alltags annehmen.«

Die Idee zu dem Programm war in den Tagen nach der Begegnung mit der jungen Frau gereift. »Ich wollte die positiven Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren gemacht hatte, so gerne mit anderen Betroffenen teilen«, sagt sie. Sie beschloss, ihrem Arzt, Professor Bernhard Hemmer, Direktor der Klinik für Neurologie am Klinikum rechts der Isar, den Plan per E-Mail zu unterbreiten. Dieser zeigte sich offen und so riefen sie gemeinsam das Patenprogramm für MS-Erkrankte ins Leben, das inzwischen auch von Hemmers Kollegin Dr. Christina Engl mitbetreut wird.

»In der schwierigen ersten Zeit nach der Diagnose bekommen die Patienten einen schon länger an MS erkrankten Menschen zur Seite gestellt«, erläutert Birkenbach-von Kuzenko. »Er soll ihnen helfen, im Alltag mit ihrer Krankheit souverän umzugehen und weiterhin ein möglichst unbeschwertes und aktives Leben zu führen.« Ob der Pate ein Mann oder eine Frau sein soll, können sich Interessierte bei der Anmeldung wünschen. »Man kann ihn anrufen, ihm schreiben oder ihn persönlich treffen – das entscheidet jeder für sich«, sagt Birkenbach-von Kuzenko.

Sie selbst betreut derzeit mehrere Betroffene, die sich jederzeit bei ihr melden dürfen. »Anders als in einer Selbsthilfegruppe können die Patienten selbst entscheiden, um welche Themen es in den Gesprächen gehen soll, was sie wissen wollen und was vielleicht lieber nicht.«

Wenn ein Pate feststellt, dass die Ängste oder Sorgen seines Schützlings zu groß werden, um sie selbst aufzufangen, gibt es die Möglichkeit, Kontakt zur Klinik für Psychosomatik aufzunehmen, mit der Birkenbach-von Kuzenko und ihr Team im Rahmen des Programms zusammenarbeiten. Dort werden die Patienten fachkundig psychologisch betreut.

Nachahmung erwünscht

Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung fand die Idee des Patenprogramms so gut, dass sie das Projekt seit einigen Monaten mit fast 50.000 Euro für die kommenden drei Jahre unterstützt.

»Darüber haben wir uns natürlich riesig gefreut«, sagt Birkenbach-von Kuzenko. »Wir haben als erstes eine Webseite erstellt, auf der sich die Patienten über unser Angebot informieren und dazu anmelden können.« Der Internetauftritt ergänzt seither die Broschüre, die alle MS-Patienten des Klinikums rechts der Isar ausgehändigt bekommen.

Noch stehen die Paten tatsächlich nur für diese Patienten in und um München zur Verfügung. »Wir hoffen aber, dass andere unsere Idee aufgreifen und auch in ihrer Region verwirklichen werden«, sagt Birkenbach-von Kuzenko. »Es ist keine große Sache, kann den Betroffenen in der ersten schweren Zeit aber viel Mut und Zuversicht geben.«

Das Patenprogramm im Internet:

Weitere Informationen gibt es telefonisch unter 089 / 4140-7640 oder per E-Mail unter ms-patenprogramm.nl@mri.tum.de.