Migräne: Nervengewitter
Rund 18 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Migräne. Das Model Phia Quantius gehört dazu. Seit ihrer Kindheit kämpft sie mit der Erkrankung – und lässt Millionen Menschen im Internet daran teilhaben.
Meine linke Augenbraue tut weh.« Mit diesem Satz begann Phias Leben als Migränikerin, als sie elf Jahre alt war. »Damals konnte ich meine Schmerzen noch nicht genauer beschreiben. Geschweige denn verstehen, was mit mir los ist«, sagt die heute 25-Jährige. Sie erinnert sich noch gut an den Junitag kurz vor den Sommerferien, als sie den Satz zu ihrer Mutter sagte. Da waren sie gerade unterwegs zur Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin, die Phia auf keinen Fall verpassen wollte. Kuchenessen, Geschenkeauspacken und Schnitzeljagd stand das Mädchen noch durch, beim T-Shirt-Batiken aber war Schluss: »Mir war kotzübel, mein Herz raste, ich habe Flecken und Blitze gesehen, das Stechen hinter meinen Augen wurde so schlimm, dass mein Sichtfeld förmlich zerplatzt ist – und dann kippte ich einfach um.«
Vielleicht ein Sonnenstich, vermuteten die Eltern, packten ihre Tochter ins Bett, gaben ihr eine Schmerztablette und waren erleichtert, als es Phia am nächsten Morgen besser ging. Doch die nächste Attacke ließ nicht lange auf sich warten: »Einige Ohnmachtsanfälle, Sehstörungen, höllische Kopfschmerzen und Arztbesuche später bekam ich dann die Diagnose: Migräne mit Aura«, sagt Phia Quantius.
Volkskrankheit Migräne
Damit ist sie nicht allein: Rund 18 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Migräne, sie ist das häufigste neurologische Leiden im Land. Frauen sind dabei deutlich öfter betroffen als Männer. »Migräne ist eine primäre Kopfschmerzerkrankung«, sagt Dr. Uwe Meier, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Neurologen. »Das bedeutet, die Kopfschmerzen treten als eigenständige Funktionsstörung des Gehirns auf und nicht als Folge anderer Krankheiten wie Infekte oder Tumore.« Fachleute unterscheiden mehr als 240 Kopfschmerzarten. Migräne ist eine davon und wiederum in verschiedene Arten unterteilt.
Die Erkrankung verläuft sehr individuell. Der Schmerz, seine Trigger, Begleiterscheinungen sowie Dauer und Häufigkeit der Attacken unterscheiden sich teils stark. Einige Betroffene haben nur gelegentlich einen Anfall, andere so häufig, dass sie Attackenangst entwickeln. Manche haben eine Aura, also neurologische Ausfallerscheinungen, andere nie. Gefährlich ist Migräne in der Regel nicht, zermürbend allemal.
»Migräne kann ein echter Lebensqualitätskiller sein«, sagt der Neurologe Meier. Diesen Leidensdruck spiegeln auch die Zahlen wider: In Deutschland sind jeden Tag rund 100.000 Menschen wegen Migräne arbeitsunfähig, etwa 31 Milliarden Euro kostet das jährlich. Die Erkrankung ist außerdem der häufigste Grund für Behinderung bei Unter-50-Jährigen. »Betroffene haben ein höheres Risiko für Depressionen, Angsterkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle und Suizid«, erklärt Meier, »die Beeinträchtigungen im Alltag sind teils enorm.«
Tagelang ausgeknockt
Davon kann Phia Quantius ein Lied singen. Vier bis sechs Anfälle hat sie aktuell im Monat. Bei ihr gehen die brutalen, einseitigen Kopfschmerzen mit starken Sehstörungen bis hin zu kurzzeitiger Blindheit, Halluzinationen, Sprachstörungen, extremer Übelkeit, Lähmungserscheinungen und Ohnmacht einher. Jeder Anfall reißt sie komplett aus dem Alltag, etwa drei Tage geht dann gar nichts mehr. Das bleibt nicht ohne Folgen: »Als Teenagerin war ich die, die ständig in der Schule gefehlt hat, nie auf Partys, Konzerte oder in Clubs gehen konnte und ständig absagen musste.«
Später kamen andere Sorgen hinzu. Mit 15 Jahren wurde Phia auf der Straße von der Agentin einer Modelagentur angesprochen, seitdem modelt sie erfolgreich. Wie aber vereinbart man ein internationales Jetset-Leben mit einer Krankheit, die kaum Planbarkeit zulässt? Wie macht man Karriere, wenn selbst kleine Dinge des Alltags eine Herausforderung sind? »Ich muss mir um alles sehr viele Gedanken machen – und auch auf vieles verzichten«, sagt Phia, »die Angst vor der nächsten Attacke ist sehr präsent in meinem Leben.«
Was genau bei Migräne passiert, ist noch nicht bis ins Detail geklärt. Sicher ist aber, dass es während einer Attacke zu einer Fehlfunktion schmerzregulierender Systeme im Gehirn kommt. Nach aktuellem Forschungsstand geht man davon aus, dass eine Migräneattacke mit einer Überaktivität von Nervenzellen im Hirnstamm beginnt. Von diesem Migränezentrum aus kommt eine fatale Kettenreaktion in Gang, in deren Folge die Ausschüttung von Botenstoffen durcheinandergerät und sich die Blutgefäße im Gehirn erweitern. Dadurch werden sie durchlässiger für Blutflüssigkeit und Entzündungsproteine. Es kommt zu einer regelrechten Aufschwemmung und einer Art Entzündung des Hirngewebes und der Hirnhäute – allerdings ohne Keime von außen. Deshalb spricht man von einer neurogenen oder sterilen Entzündung. Diese verursacht Schmerzimpulse, die ausstrahlen und heftige Beschwerden verursachen. Das erhöht die Reizempfindlichkeit derart, dass selbst der eigene Puls als Schmerzwelle empfunden wird. »Es ist wirklich schwer auszuhalten«, sagt Phia.
Heilung gibt es nicht, Hilfe schon
Heilung gibt es bisher nicht. »Aber wir haben trotzdem viele Möglichkeiten, Migräne zu behandeln«, betont Facharzt Meier. Die Therapie stütze sich dabei auf drei Säulen. Erstens Medikamente, um einen akuten Migräneanfall zu dämpfen, etwa Triptane. Zweitens Medikamente zur Prophylaxe, dazu gehören zum Beispiel Betablocker, Botolinumtoxin und Antikörper. Sie sollen die Anzahl und Schwere der Attacken reduzieren. Und drittens nicht medikamentöse Ansätze, die beim Lebensstil ansetzen. »Dieser Bereich wird oft unterschätzt«, sagt Uwe Meier. Dazu gehören zum Beispiel regelmäßiger Ausdauersport, das Führen eines Schmerztagebuchs zur Identifizierung von Triggern und das Erlernen von Techniken zur Stressresilienz.
»Wenn die Migräne früh diagnostiziert und behandelt wird und alle drei Behandlungsformen fachgerecht genutzt werden, können viele Migräniker ein gutes Leben führen, sagt Dr. Meier. Aber: Nicht alle gehen zum Facharzt, manche entschließen sich erst spät dazu und es gibt einige Fallstricke. Nimmt man etwa zu häufig Triptane, verstärkt sich die Migräne. Bei vielen Schmerzmitteln entsteht ein Gewöhnungseffekt. Wird zu spät behandelt, kann es zu Veränderungen der Schmerznetzwerke im Gehirn und einer Zunahme der Häufigkeit von
Attacken kommen. Und dann gibt es die extremen Fälle, in denen alles zusammenkommt. So war es bei Phia. »Ich habe als Kind zwar eine Diagnose bekommen, aber keine Aufklärung. Man fühlt sich einfach oft nicht ernst genommen und gesehen.«
Schonungslose Posts auf Instagram
Als junge Frau beschloss sie, das zu ändern. »Ich habe gemerkt, dass die Krankheit zu viel Macht über mein Leben hat.« Sie probiert viel aus, wird zur Expertin für ihre Erkrankung und investiert viel Zeit und Nerven in die Suche nach einer passenden Neurologin. Sie wagt den Schritt in die Öffentlichkeit, schreibt das Buch Bombenkopf über ihre Erkrankung und postet auf Instagram schonungslose Beiträge über ihre Anfälle. Meist filmt dann ihr Freund Malte, weil Phia selbst zu ausgeknockt ist. »Alle haben mich weinen und kotzen sehen, ich muss mich nicht mehr verstecken«, sagt sie.
Vor dem ersten Post zu ihrer Erkrankung war sie nervös, sich so verletzlich zu zeigen. Der Kontrast zwischen glamourösem Modelleben und brutalen Migräneattacken könnte größer nicht sein. Doch ein Großteil der Community reagierte mit Verständnis und Unterstützung. »Ich habe irrsinnig viele Nachrichten von Menschen bekommen, die auch unter Migräne leiden«, sagt sie. Rund 235.000 Personen folgen ihr allein auf Instagram, wo sie zwischenzeitlich zu einer Art Migräne-Influencerin geworden ist. Phia freut sich über die Aufmerksamkeit für die Erkrankung: »Solange ich keinen Anfall habe, ist meine Migräne unsichtbar und wird deshalb oft nicht ernst genommen. Das will ich ändern.«
Migränespritze, die neue Hoffnung
Erfolg und Follower aber beeindrucken die Migräne nicht. Vor Kurzem hat Phia ihren ersten durch Migräne ausgelösten Epilepsieanfall erlitten, nach wie vor kommen die Anfälle häufig und heftig. Aber es ist auch etwas Gutes passiert: Nach 14 Jahren mit der Krankheit hat sie sich im Februar ihre erste Antikörper-Spritze in den Bauch gepikst. »Mein Weg bis zu dieser Therapie war ein langer, einsamer und energiezehrender. Ich musste erstmal sehr viele Experten und Expertinnen davon überzeugen, dass ich wirklich starke Migräne habe. Dass der Schmerz nicht aushaltbar ist und dass meine Migräne mich und mein Leben einnimmt«, schreibt sie unter den Post.
Antikörper sind noch eine recht neue Therapie. Sie richten sich gegen bestimmte Eiweißstoffe, die maßgeblich an Migräne beteiligt sind, weil sie die Gefäße erweitern und Entzündungsreaktionen befeuern. Sogenannte CGRP-Antikörper blockieren die Rezeptoren für solche Eiweiße oder richten sich direkt gegen sie. »So unterbrechen sie die Signalwege bei Migräne«, erklärt Neurologe Uwe Meier. Antikörper sind zudem die bisher einzige Prophylaxe, die eigens für Menschen mit Migräne entwickelt wurden. Die bisherige Studienlage ist vielversprechend und zeigt eine Reduktion der Migränetage um etwa ein bis drei Tage pro Monat. Antikörper können vom Arzt verordnet werden, wenn der Patient unter mindestens vier Migränetagen im Monat leidet und eine herkömmliche Prophylaxe erfolglos oder nicht zur Therapie geeignet war.
Zwar schlägt die Antikörper-Therapie nicht bei allen Betroffenen an, für Phia ist die Migränespritze jedoch der erste echte Hoffnungsschimmer seit Langem. Sie gibt sich kämpferisch: »Migräne ist ein Arschloch, das einen Großteil meines Lebens bestimmt«, sagt sie. »Aber ich werde nie aufhören, mir so viel wie möglich davon zurückzuholen.« nh
Menschen mit Migräne fühlen sich häufig stigmatisiert
Eine neue Studie der Europäischen Migräne- und Kopfschmerzallianz (EMHA), der Migräneliga Deutschland und der Stiftung Kopfschmerz zeigt, dass Menschen mit Migräne sich im Alltag oft diskriminiert fühlen.
Viele von ihnen geben an, zu Hause, am Arbeitsplatz, aber auch im Gesundheitswesen negativen Reaktionen ausgesetzt zu sein. Die Studie basiert auf einer Umfrage, an der im Frühjahr 2023 in 17 europäischen Ländern mehr als 4.200 Menschen mit und ohne Migräne teilnahmen. 88 Prozent der Befragten waren Frauen im Alter von 25 bis 64 Jahren. Die meisten Betroffenen hatten mehr als acht Attacken im Monat und somit eine schwere Form der Migräne.
Eine stark unterschätzte Krankheit
Eine Stigmatisierung liege vor, wenn Betroffene ihre Umwelt als negativ, abweisend oder intolerant wahrnähmen, schreiben EMHA und Migräneliga Deutschland in einer gemeinsamen Pressemitteilung. Das verschlimmere den ohnehin schon erheblichen Schmerz und das Leid, das Migräne verursache, und führe oft zu Einsamkeit, Frustration und Traurigkeit.
Jeder vierte gesunde Befragte, so ein weiteres Ergebnis der Studie, setzt Migräne mit starken Kopfschmerzen gleich und unterschätzt die Erkrankung erheblich. Demgegenüber beklagten fast alle Migränebetroffenen, dass die Öffentlichkeit die Krankheit nicht richtig verstehe. »Mach einen Spaziergang, dann werden die Kopfschmerzen besser«, zitiert Veronika Bäcker, Präsidentin der Migräneliga Deutschland, einen typischen Ratschlag, den sich Migränepatienten im Alltag häufig anhören müssten.
Aus Angst verschwiegen
Für den Einzelnen kann die Stigmatisierung gravierende Folgen haben. So berichtete fast jeder dritte Migränepatient in der Befragung, Arztbesuche aus Scham oder aus Angst vor Verurteilung durch das Fachpersonal hinauszuzögern oder zu vermeiden. Und drei von vier Betroffenen fühlen sich von medizinischen Fachkräften nicht ernst genommen.
Auch am Arbeitsplatz befürchten viele Betroffene, stigmatisiert zu werden, und verschweigen ihre Erkrankung aus Angst vor negativen Konsequenzen. So haben 43 Prozent der Befragten ihren Arbeitgeber nicht darüber informiert – auch wenn es ihnen schwerfällt, das Arbeitspensum zu bewältigen. Besonders häufig (80 Prozent) glauben Teilzeitkräfte , dass ihre Migräne sich negativ auf ihre berufliche Laufbahn auswirkt.
Weckruf für die Ärzteschaft
Ein gebrochenes Bein sei unübersehbar, die Migräneattacke hingegen finde im abgedunkelten Zimmer statt und werde von Unbeteiligten oft nicht wahrgenommen, sagt Veronika Bäcker von der Migräneliga. Ihre Organisation trete daher Vorurteilen und Halbwissen entgegen und plädiere für mehr Empathie und Aufklärung.
Nach Ansicht von Peter Goadsby, Professor für Neurologie am King‘s College London und Mitautor der Studie, zeigen die Umfrageergebnisse, dass die Erkrankung eine enorme psychische Belastung für die Patienten darstellt. Die Studie sei ein Weckruf für die Ärzteschaft, die Belastung ihrer Migränepatienten ernster zu nehmen und stärker auf eine behutsame Kommunikation zu achten.
Viele Migränepatienten fühlten sich durch Krankheitsbeschreibungen wie »behindernd«, »hartnäckig« oder »chronisch« stigmatisiert, heißt es in der Pressemitteilung. Daher wolle die EMHA noch in diesem Jahr ein neues System zur Kategorisierung der Migräne einführen. Es soll eine präzise Bestimmung des Schweregrads der Krankheit ermöglichen und der Diskriminierung von Betroffenen entgegenwirken. ak