Multiple Sklerose: »Ich musste erst lernen, die Trauer zuzulassen«

Alexandra Leyer erkrankte schon in jungen Jahren an Multipler Sklerose. Die Angst vor einem möglichen Kontrollverlust trieb sie zunächst in eine Depression sowie in eine Ess- und Zwangsstörung. Heute, rund 13 Jahre später, betrachtet sie die Diagnose als eine Fügung des Schicksals, die ihr die Chance auf ein erfülltes Leben erst ermöglichte.

Alexandra, als du deine MS-Diagnose erhalten hast, warst du gerade einmal 20 Jahre alt. Was hat dir damals am meisten Angst gemacht?

Ich habe vor allem befürchtet, eines Tages nicht mehr laufen zu können und ständig auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Ich war damals in meiner Ausbildung zur Krankenschwester auf einer Station für Neurologie und wusste daher über die Erkrankung, auch über die schweren Verläufe, ziemlich gut Bescheid.

Zudem hatte ich große Angst davor, dass andere Menschen spüren könnten, wie traurig ich über meine Diagnose war und dass ich mit diesem Gefühl vielleicht allein gelassen werden könnte. Gleichzeitig hatte ich die Sorge, meine Familie, insbesondere meine Mutter, mit meiner Krankheit unglücklich zu machen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand wegen mir leidet, und habe auch deswegen immer so getan, als sei meine MS überhaupt nicht schlimm.

Wie hast du versucht, diese Ängste und auch deine Trauer und Wut in den Griff zu bekommen?

Zunächst habe ich wie gesagt versucht, die Krankheit und meine Symptome vor mir und vor anderen herunterzuspielen. Ich habe es meiner Familie und meinen Freunden verschwiegen, wenn ich mal wieder einen Schub hatte. Wenn es mir körperlich schlecht ging, habe ich mich komplett zurückgezogen. Negative Gefühle habe ich auch mir selbst gegenüber nicht zugelassen. Ich nahm außer Kortison bei einem akuten Schub auch keine Medikamente gegen die MS ein.

Später habe ich mich darum bemüht, eine andere, letztendlich allerdings fatale Art der Kontrolle über meinen Körper und mein Leben zu erlangen. Ich entwickelte sowohl eine Ess- als auch eine Zwangsstörung. Ich aß sehr wenig, trieb trotz meiner körperlichen Beschwerden extrem viel Sport und freute mich jedes Mal, wenn die Waage wieder weniger Kilos anzeigte. Das gab mir das Gefühl, meinen Körper eben doch kontrollieren zu können.

Zudem plante ich jeden einzelnen Tag und auch jede Mahlzeit minutiös und war abends erst dann zufrieden, wenn ich mich tagsüber exakt an meinen Plan gehalten hatte. Nur so, dachte ich, behalte ich die Kontrolle über mein Leben. Allerdings musste ich mir für all das einen imaginären Käfig bauen, in dem ich mich regelrecht verschanzt habe. Die Menschen um mich herum haben mich auch nur sehr selten auf mein merkwürdiges Verhalten angesprochen. Sie wussten, dass ich dann entweder abweisend oder patzig reagieren würde. Diese Phase meines Lebens hielt fast acht Jahre lang an.

Wo war der Punkt, an dem du gemerkt hast, dass deine damaligen Strategien wenig bis gar nicht hilfreich waren?

Meine MS-Schübe wurden mit der Zeit immer häufiger und schwerer. Je mehr sie mich in meiner Beweglichkeit einschränkten, desto stärker wurde das Verlangen, nicht zu essen und Sport zu treiben. Denn je größer der Kontrollverlust durch die Erkrankung wurde, desto mehr steigerte sich mein Bedürfnis, mithilfe der Ess- und der Zwangsstörung wieder Kontrolle zu erlangen. Irgendwann hat beides aber nicht mehr funktioniert. Ich hatte damals überhaupt keine Kraft mehr, war unglaublich unglücklich, frustriert und wütend.

Dann endlich stellte ich irgendwann fest, dass all meine scheinbar so hilfreichen Strategien ausschließlich gegen mich selbst gerichtet waren und ich mir damit ausnahmslos Schaden zufügte. Ich wusste damals vor allem eines: So will ich auf keinen Fall mehr weiterleben. Ich wollte wieder rausgehen, meine Freunde treffen, glücklich sein – einfach mein Leben wiederhaben.

Was hast du daraufhin verändert?

Mein erster Schritt bestand darin, die MS endlich mit verlaufsmodifizierenden Medikamenten behandeln zu lassen. Als Nächstes begab ich mich auf die Suche nach einer ambulanten Psychotherapie. Mithilfe meiner Therapeuten versuchte ich herauszufinden, aus welchen Gründen ich mich so verhielt, wie ich es tat – warum ich zum Beispiel keinerlei Traurigkeit zulassen konnte. Dabei habe ich mich unter anderem intensiv mit meinem inneren Kind auseinandergesetzt und nach und nach gelernt, Gefühle zu empfinden und auch mit anderen Menschen über sie zu sprechen.

Ich habe mich zudem gefragt, was ich beruflich machen möchte, wo und wie ich wohnen will, was ich in meinem Leben noch erleben und sehen möchte, wie ich mich morgens fühlen will, wenn ich aufwache, und wie ich besser auf meine Grenzen achten kann. Ich habe mir wirklich jeden Lebensbereich einzeln angeschaut und mir dabei tausend Fragen gestellt. Vor allem aber die Frage, wer ich sein will und was mich daran gerade noch hindert.

Kurz gesagt habe ich dafür gesorgt, dass ich mental und emotional stabiler wurde. Das Spannende dabei war: Je besser es mir psychisch ging, desto weniger MS-Schübe hatte ich. Das zeigte mir, welch unfassbar großen Einfluss die seelische Gesundheit auf das körperliche Wohlergehen hat.

Welche Hürden waren bei all dem zu bewältigen?

Ich musste vor allem lernen zu weinen, also negative Gefühle wie Traurigkeit oder Wut auch zuzulassen. Ein weiterer wichtiger Schritt bestand darin, meinen Körper so anzunehmen und wertzuschätzen, wie er ist – auch mit der MS und den dadurch bedingten körperlichen Ausfällen. Die Symptome auszuhalten und ihnen mit Mitgefühl zu begegnen, ohne in alte Verhaltensmuster, wie beispielsweise den Nahrungsentzug zurückzufallen, war oft sehr schwer.

Eine stationäre Therapie, die ich ebenfalls gemacht habe, ging völlig nach hinten los, sodass meine Essstörung sogar noch schlimmer wurde und ich weiter an Gewicht verlor. Erst bei einer Reha, in die ich mich im Anschluss begab, fand ich einen Therapeuten, der mir wirklich geholfen hat, indem er sich gemeinsam mit mir auf die Suche nach den Ursachen für mein seltsames Verhalten begab. Erst als ich mich und meine Gefühle dank ihm besser verstand, konnte ich die alten Strategien endgültig hinter mir lassen.

Wie blickst du inzwischen auf deine Erkrankung?

Ich bin heute definitiv glücklicher als vor dem Ausbruch der MS. Die Krankheit ist für mich zudem zu einer Art Wegweiser geworden: Wenn ich meine Grenzen nicht beachte, etwas tue, das ich eigentlich nicht möchte, tauchen MS-Symptome auf. Sie bringen mich jedes Mal zu mir zurück – und dann verschwinden sie auch wieder. Außerdem erlebe ich mich inzwischen als sehr selbstbestimmt: Ich kann jeden Morgen selbst entscheiden, wie ich meinen Tag gestalte und, vor allem, wie ich mich dabei fühlen möchte.

Gab oder gibt es Dinge in deinem Leben, die dir aufgrund der MS nicht mehr möglich sind?

Ja, natürlich. Neulich wollte ich zum Beispiel Wasserski fahren. Da merkte ich aber schon nach einer Runde, wie mein Bein zu zittern begann, und musste deshalb aufhören. Ich schaffe es oft auch nicht mehr, so lange unterwegs zu sein wie früher, und kann daher viele Aktivitäten nicht so recht planen.

Wie gehst du damit um?

Ich bin natürlich manchmal traurig oder wütend darüber, kann diese Gefühle aber im Gegensatz zu früher gut zulassen. So komme ich dann auch wieder aus ihnen heraus und kann die Situation im Anschluss so annehmen, wie sie nun einmal ist.

Du hast über deine Erfahrungen seit dem Ausbruch der Erkrankung ein Buch geschrieben und bist zudem im Internet und in sozialen Medien aktiv, um andere Menschen mit MS zu beraten und sie zu unterstützen. Gibt es einen Tipp, den du für ganz besonders wichtig hältst?

Jeder Mensch und erst recht jede Person, die mit Multipler Sklerose lebt, sollte lernen, den eigenen Körper wertzuschätzen. Denn er ist genau richtig so, wie er ist, und ein Zuhause für die Seele. Sehr wichtig ist es meines Erachtens auch, Gefühle zuzulassen. Denn jede Emotion, die wir verspüren, möchte uns etwas sagen. Wer das allein nicht schafft und trotzdem etwas verändern möchte, sollte sich professionelle Hilfe holen.

Mir persönlich haben auf meinem Weg auch Meditationen und Yoga-Übungen sehr geholfen, auf die ich einst eher zufällig im Internet gestoßen war. Das Wissen, das ich inzwischen erworben habe, möchte ich gerne an andere weitergeben. Aus diesem Grund habe ich einen Online-Meditationskurs speziell für Menschen mit MS entwickelt. Er ist für alle Patienten geeignet, auch für solche, die noch nie in ihrem Leben meditiert haben. In dem Kurs können sie unter anderem lernen, eine gute Verbindung zu ihrem Körper aufzubauen und diese auch langfristig zu pflegen.