Multiple Sklerose:Gut verwurzelt

Neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson nehmen zu, bis 2050 könnte sich die Anzahl der Patienten verdoppeln. Dabei ließe sich ein großer Teil der Erkrankungen vermeiden. Wie das geht, zeigt die Präventionsforschung.

Einmal angenommen, es gäbe ein Medikament, das den Ausbruch von Demenz und Parkinson verhindern könnte. Oder bei bereits betroffenen Menschen das Fortschreiten der Erkrankung verzögern und die Symptome lindern würde. Wäre das nicht eine Sensation, ein bahnbrechender Erfolg, ein Meilenstein der Medizin? »Eigentlich haben wir ein solches Mittel längst. Nur eben nicht in Form von Tabletten«, sagt Dr. Eva Schäffer. Das Spezialgebiet der Neurologin sind Früherkennung und Prävention, dazu leitet sie gemeinsam mit Professorin Daniela Berg eine Forschungsgruppe an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. »Bis zu 40 Prozent der Demenzen könnten durch die Vermeidung von Risikofaktoren verhindert werden und auch das Risko für Parkinson lässt sich signifikant reduzieren«, sagt sie. Die Zahlen sind gut belegt und unterstreichen das Potenzial von Prävention eindrucksvoll. Eva Schäffer: »Wir haben eine Riesenchance, etwas gegen diese Erkrankungen zu tun. Aber bisher nutzen wir sie so gut wie gar nicht.«

Die Patientenzahlen steigen stark

Dabei wäre genau das wichtig: Nach Angaben der WHO haben derzeit weltweit mehr als 55 Millionen Menschen Demenz, 1,8 davon leben in Deutschland. Global kommen jährlich etwa zehn Millionen Fälle hinzu. Fachleute gehen davon aus, dass ohne Fortschritte bei Behandlung und Prävention im Jahr 2030 rund 78 Millionen Menschen von der Krankheit betroffen sein werden, 2050 bereits 139 Millionen. Die Anzahl der Parkinson-Erkrankungen ist niedriger, steigt aber ebenfalls. Allein zwischen 1990 und 2016 hat sie sich mehr als verdoppelt, bis 2040 wird mit weltweit zwölf Millionen Patienten gerechnet.

Risikofaktoren in den Blick nehmen

Ist das ein unvermeidliches Schicksal immer älter werdender Gesellschaften? »Tatsächlich ist das Alter der wichtigste Risikofaktor für neurodegenerative Erkrankungen, aber längst nicht der einzige«, sagt Schäffer. Hinzu kommt, dass Demenz und Parkinson Jahre bis Jahrzehnte vor den ersten Symptomen beginnen. Experten wie Professor Michael Heneka von der Universität Luxemburg etwa weisen darauf hin, dass es sich streng genommen um Erkrankungen des mittleren Lebensalters handelt. »Das, was man allgemein unter diesen Krankheiten versteht, ist das Endstadium eines langsamen, aber stetigen Abbauprozesses von Nervenzellen«, sagte Heneka unlängst auf einer Fachtagung und verglich das Fortschreiten der Erkrankungen mit einem Staffellauf: Eine krankhafte Veränderung im Gehirn stößt die nächste an. Seine Schlussfolgerung: »Wir müssen frühzeitig eingreifen und anfangen zu behandeln, wenn noch keine Beschwerden vorhanden sind.«

Wie das gehen könnte, untersucht Eva Schäffer. Ihr Fokus liegt auf beeinflussbaren Risikofaktoren – also Faktoren abseits der Genetik. Bei der Demenz sind das vor allem Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, die Abnahme der Hörfähigkeit, ein niedriges Bildungsniveau, Rauchen, Depressionen sowie eine geringe Zahl an sozialen Kontakten. Bei Parkinson hingegen sind es Bewegungsmangel, Diabetes sowie ein regelmäßiger, häufig beruflich bedingter Kontakt mit Pestiziden und Lösungsmitteln.

Sport schützt die Nervenzellen

Was also kann man konkret tun, um sich zu schützen? »Mit Abstand am besten untersucht ist der Einfluss von Ernährung und Bewegung«, sagt Schäffer. Regelmäßiger Sport etwa trägt nicht nur dazu bei, Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen, Übergewicht zu vermeiden und die Elastizität der Gefäße zu wahren, sondern hat auch schützende Effekte auf die Nervenzellen. »Beim Sport schüttet der Körper Substanzen aus, die das Wachstum von Nervenzellen anregen und ihre Vernetzungen im Gehirn fördern«, sagt die Fachärztin. Solche Nervenwachstumsfaktoren, etwa BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor), lassen sich im Blut nachweisen.

Schon leichte körperliche Bewegung wirkt sich positiv aus, optimal für das Gehirn ist aber moderates Ausdauertraining. »Man muss sich nicht komplett auspowern, aber Puls und Atemfrequenz sollten hochgehen, man sollte schon aus der Puste kommen«, rät Schäffer. Darüber hinaus kann Sport Entzündungsreaktionen im Körper dämpfen, oxidativen Stress verringern und die Funktion der Mitochondrien und damit den Energiestoffwechsel der Zellen verbessern. Auch das lässt sich messen, etwa durch eine geringere Konzentration von Zytokinen im Blut, die auf Entzündungen hindeuten. Oder durch eine Reduktion von Alpha-Synuclein-Ansammlungen – Proteine im Gehirn, die bei Parkinson und Alzheimer verklumpen. Die Liste positiver und schützender Auswirkungen von Sport ließe sich lange fortführen. Wichtig festzuhalten ist: »Die Studienlage ist umfassend und eindeutig: Sport hat starke neuroprotektive Effekte«, sagt Schäffer.

Einfluss der Ernährung wird unterschätzt

Das zweite große, gut untersuchte Thema ist unsere Ernährung. Doch allen Studien zum Trotz: »Wir neigen dazu, den Einfluss unserer Ernährung auf unsere Gesundheit zu unterschätzen«, sagt Professor Martin Smollich vom Institut für Ernährungsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die Effekte zeitverzögert auftreten. »Cola, Fast Food und Süßigkeiten machen uns ja nicht umgehend krank, sondern über Jahre und Jahrzehnte«, sagt Smollich.

Einfach und doch kompliziert

Bei etwa 80 Prozent aller Erkrankungen besteht ein Zusammenhang mit der Ernährung – Demenzen, Parkinson und andere neurodegenerative Erkrankungen sind da keine Ausnahme. Eine gesunde Ernährung hilft, Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und Gefäßerkrankungen zu vermeiden, und wirkt sich damit indirekt auch auf die Gesundheit des Nervensystems aus. Zum Beispiel, indem sie inflammatorische Prozesse im Körper dämpft, also Entzündungsreaktionen. Oder indem sie unser Mikrobiom stärkt, die rund 100 Billionen Mikroorganismen in unserem Darm. »Das Mikrobiom hat großen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden und wird derzeit intensiv erforscht«, sagt Smollich.

Wer genauer in diese Themen eintaucht, stößt auf viele hochkomplexe Fragen: Welche Interaktion findet zwischen den Bakterien in unserem Darm, ihren Stoffwechselprodukten, unserer Nahrung und dem Immunsystem in der Darmwand statt? Wie gehen Zellen mit oxidativem Stress um? Was können bestimmte Lebensmittel-Inhaltsstoffe im Körper ausrichten? Auch wenn erst einige Antworten vorliegen – die Empfehlungen, die sich daraus für den Alltag ergeben, sind relativ unkompliziert und lassen sich in etwa so zusammenfassen: »Auf dem Speiseplan sollten reichlich Gemüse und Obst, wenig Fleisch, etwas Fisch, viele Vollkornprodukte und gesunde Fette etwa aus Nüssen oder Olivenöl stehen. Meiden hingegen sollte man zu viel Salz, Zucker, Wurst und Süßwaren sowie frittierte Kartoffelprodukte«, sagt Smollich und fügt hinzu: »Leider enthält die typische westliche Ernährungsweise sehr viel von genau diesen Lebensmitteln.« Das macht es für viele am Ende doch schwierig, sich gesundheitsförderlich zu ernähren. Permanent von hochkalorischen und stark verarbeiteten Lebensmitteln umgeben zu sein, vereinfacht die Sache nicht.

Eine Diät für Herz und Hirn

Zur Prävention neurodegenerativer Erkrankungen besonders geeignet ist die sogenannte MIND-Diät, die von US-amerikanischen Wissenschaftlern erarbeitet wurde. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus mediterraner Kost und der DASH-Diät, die häufig bei Bluthochdruck empfohlen wird und mit einer Reduktion von Salz und rotem Fleisch einhergeht. Die MIND-Diät beugt nicht nur nachweislich Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor, sondern zielt aktiv auch auf die Hirngesundheit ab. Dahinter steckt die Idee, dass auch dem Hirn nützt, was dem Herz guttut. Schließlich gelangen Sauerstoff und Nährstoffe über den Blutkreislauf zum Gehirn. »Deshalb erhöhen viele Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch das Demenzrisiko«, sagt Smollich.

Das mittlere Lebensalter ist entscheidend

Im Vergleich zur klassischen Mittelmeer-Diät ist die MIND-Diät etwas erweitert: Zu Gemüse, Fisch, Obst, Vollkornprodukten und Olivenöl kommen etwa noch Nüsse, Samen, Kräuter, Sprossen, Pilze, Hülsenfrüchte, viel grünes Blattgemüse und Beeren hinzu. In diesen Lebensmitteln stecken nicht nur eine Menge Vitamine, sondern auch wertvolle Pflanzenstoffe mit schützenden Effekten, etwa Polyphenole in Olivenöl oder Chlorophyll in Blattgemüse. Meiden sollte man den Forschenden zufolge hingegen rotes Fleisch, Butter, Margarine, Käse, Gebäck, Süßigkeiten, Frittiertes sowie Fast Food – diese Lebensmittel begünstigen eine frühzeitige Zellalterung, auch im Gehirn. »Natürlich sind Pommes oder Naschen mal erlaubt, aber es sollte die Ausnahme sein«, sagt Neurologin Eva Schäffer. Studien bestätigen: Wer sich konsequent nach der MIND-Diät ernährt, kann sein Alzheimer-Risiko um 53 Prozent senken. Wer weniger strikt ist, reduziert es immerhin noch um 35 Prozent.

»Ähnlich reich an Vitaminen, Ballaststoffen und Antioxidantien wie die MIND-Diät ist die in Skandinavien entwickelte Nordische Diät, die den dortigen Ernährungsgewohnheiten entgegenkommt«, sagt Schäffer. Sie betont regionale Produkte wie Atlantikfisch, Pilze, Quark, Sauerteig und Rapsöl stärker. Letztlich ähneln sich die Empfehlungen aus der Ernährungsforschung aber stark. »Und sie sind selten ganz neu, meist handelt es sich um Ernährungswissen aus Omas Zeiten«, sagt Smollich. Beide Fachleute betonen: Das mittlere Lebensalter ist für die Prävention entscheidend, also ungefähr die Zeit zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr. »Wer lange gesund leben will, kommt um gesunde Ernährung und etwas Sport nicht herum«, sagt Schäffer.

Daneben gibt es weitere Einflussfaktoren wie Schlaf oder Stress, die bisher aber weniger gut untersucht sind. »Was wir ziemlich sicher wissen, ist, dass sieben bis acht Stunden Nachtruhe schützende Effekte haben«, sagt Schäffer.

Es ist nie zu spät für Prävention

Prävention endet nicht mit der Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung – das festzuhalten, ist Eva Schäffer wichtig. Vielmehr unterscheide die Wissenschaft drei Bereiche: Die Primärprävention, die sich an die Allgemeinbevölkerung richtet, die Sekundärprävention, die sich an Betroffene in der Frühphase einer Erkrankung richtet und die Tertiärprävention, die auf Menschen mit bereits ausgeprägter Symptomatik abzielt. »Alle drei Gruppen profitieren deutlich von Veränderungen des Lebensstils«, betont die Kieler Neurologin, sie erlebe es täglich selbst: »Der Unterschied etwa zwischen Parkinsonpatienten, die trainieren und solchen, die körperlich inaktiv sind, ist enorm.«

Sie weiß, dass gerade nach der Diagnose einer chronischen und unheilbaren Erkrankung die Motivation oft sinkt, viele Patienten sich hilflos und ohnmächtig fühlen. Ihnen will sie Mut machen: »Man kann wirklich eine ganze Menge tun, um den Krankheitsverlauf zu verzögern und die Lebensqualität zu verbessern.« Wenn es die anfangs erwähnten Tabletten gäbe, sagt Schäffer, würden sich die Menschen darum reißen. Erwiesenermaßen hochwirksam seien aber auch heute schon Änderungen des Lebensstils. Schäffers Credo lautet deshalb: »Für Prävention ist es nie zu früh – und nie zu spät.« nh