Multiple Sklerose:Mit frischen Immunzellen gegen MS
Eine aggressiv fortschreitende Multiple Sklerose lässt sich selbst durch die besten verfügbaren Medikamente kaum aufhalten. Eine relativ neue Behandlungsform setzt an den Ursachen der Krankheit an – mit ermutigenden Ergebnissen.
Multiple Sklerose, kurz MS, geht auf eine fehlerhafte Reaktion des körpereigenen Abwehrsystems zurück. Anstatt den eigenen Körper gegen »Fremdes« zu schützen, greifen fehlgeleitete Immunzellen die Hüllen der Nervenscheiden im zentralen Nervensystem an und mindern ihre Leitfähigkeit. Die Folge: Von den Sinneszellen in der Haut und in den Gelenken erfasste Reize gelangen mit Verzögerung ins Gehirn und werden dort langsamer verarbeitet als bei gesunden Menschen. Auch die Signalübermittlung vom Gehirn zu den Muskeln ist gestört, sodass deren Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt wird.
Wenn Medikamente nicht mehr wirken
Wie alle Autoimmunerkrankungen gilt auch MS als nur schwer heilbar. Verschiedene Wirkstoffe können die schleichende Zerstörung des Nervensystems verlangsamen. Doch sie schlagen nicht bei allen Betroffenen gleich gut an. Etwa eine von zwanzig erkrankten Personen leidet an einer hochaggressiven Form der MS, die sich selbst mit den stärksten Medikamenten nicht kontrollieren lässt. Diesen Menschen könnte ein anderer Behandlungsansatz helfen: die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation, kurz AHST. Dabei werden die eigenen (autologen), im Blut zirkulierenden Immunzellen mittels Chemotherapie zerstört – und anschließend durch gesunde Zellen ersetzt.
Naiv wie Neugeborene
Die Produktion der neuen Immunzellen übernehmen die blutbildenden (hämatopoetischen) Stammzellen des Knochenmarks. »Sie sorgen dafür, dass Tag für Tag millionenfach neue rote und weiße Blutkörperchen, Blutplättchen, Abwehrzellen und Stammzellen entstehen«, sagt Professor Nicolaus Kröger, Direktor der Klinik für Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf UKE. »Diese neuen Abwehrzellen sind anfangs naiv wie Neugeborene und müssen erst lernen, was zum Körper gehört und was nicht. Und alles, was nicht zum Körper gehört, zum Beispiel Bakterien, Viren oder fremdes Gewebe, lernen sie zu attackieren«, erläutert der Internist.
Offenbar läuft bei Menschen mit MS etwas schief bei der Ausbildung der naiven Abwehrzellen, die dann fatalerweise die Nervenhüllen nicht als eigen, sondern als fremd wahrnehmen und zerstören. Dieses Fehlverhalten ist nicht angeboren, sondern wird irgendwann im Leben erworben. Ob und warum es dazu kommt, lässt sich derzeit nur vermuten. Als mögliche Auslöser gelten das Epstein-Barr-Virus, aber auch Zigarettenrauch, Adipositas oder Vitamin-D-Mangel in der Kindheit.
»Wir stellen uns vor, dass MS auf einer genetischen Veranlagung beruht, die jedoch erst durch zusätzliche Faktoren zu einer fehlgeleiteten Entwicklung der naiven Immunzellen führt«, sagt Kröger. »Hierauf basiert die Grundidee der AHST: Wir wollen das fehlgeleitete Immunsystem durch ein neues ersetzen, das diesen Faktoren noch nicht ausgesetzt war.«
Zunächst müssen die Stammzellen gesammelt werden. Dazu werden die betroffenen Personen fünf Tage lang mit einem Wachstumsfaktor behandelt, der die Stammzellen aus dem Knochenmark ins Blut wandern lässt. Von dort können diese mit einer der Dialyse ähnlichen Blutwäsche binnen weniger Stunden in ausreichenden Mengen herausgefischt werden; anschließend friert man sie ein. Danach wird das alte Immunsystem mittels hochdosierter Chemotherapie zerstört. Schließlich erhalten die Betroffenen ihre aufgetauten Stammzellen zurück, die dann das blutbildende System einschließlich neuer, naiver Immunzellen aufbauen. Die AHST bewirkt gleichsam einen Neustart des Immunsystems, einen Reset.
Gelöschtes Immun-Gedächtnis
»Wir erhoffen uns, dass die neuen Zellen nicht denselben Fehler machen wie ihre Vorgänger, sondern die Nervenscheiden als eigenes Gewebe erkennen und in Ruhe lassen«, sagt Nicolaus Kröger. Theoretisch haben die derart Behandelten trotz des neu ausgebildeten Immunsystems zwar weiterhin ein genetisches Risiko für ein Wiederaufflammen der Multiplen Sklerose. Doch solange die neuen Immunzellen nicht auf die auslösenden Faktoren treffen, schreitet die Krankheit nicht fort.
Ergebnisse der immunologischen Forschung sprechen für die Theorie des Immun-Resets. Beispielweise wird durch eine AHST das Immungedächtnis für die meisten Krankheitserreger gelöscht, sodass Transplantierte, die gegen bestimmte Erreger geimpft worden waren, ihren Schutz verloren und erneut geimpft werden mussten.
Chancen und Risiken
Seit der Erprobung der AHST Mitte der 1990er-Jahre wurden weltweit rund 2.500 Stammzelltransplantationen dokumentiert, die meisten davon in Europa. Zu den wenigen deutschen Kliniken, in der diese Methode praktiziert wird, zählt das UKE in Hamburg. »Wir haben vor 15 Jahren damit begonnen und die Behandlung stetig weiterentwickelt. Bei mittlerweile fast hundert Eingriffen hat es in keinem Fall schwerwiegende Komplikationen gegeben«, sagt Nicolaus Kröger: »Bei drei von vier Transplantierten kam die Krankheit zum Stillstand, etliche Behandelte sind über Jahre hinweg beschwerdefrei.«
Angesichts dieser Erfolge wünschen sich immer mehr MS-Kranke eine Stammzelltransplantation. Doch ein Immun-Reset berge nicht nur Chancen, sondern auch Risiken, gibt Kröger zu bedenken: »Das ist eine sehr belastende Therapie mit Nebenwirkungen. Man muss vier Wochen stationär in der Klinik sein, und zwar isoliert im Einzelzimmer. Denn während das alte Immunsystem zerstört wird und das neue im Entstehen ist, besteht eine erhöhte Gefahr für Infektionen. Zudem verlieren die Patienten durch die hochdosierte Chemotherapie in den meisten Fällen ihre Fruchtbarkeit.«
Als häufigste Komplikation nennt Kröger Infektionen mit Fieber. Im schlimmsten Fall könne sich eine lebensbedrohliche Sepsis (Blutvergiftung) einstellen. »Das ist bei uns im UKE noch nicht passiert, doch weltweit liegt die Sterberate nach einer AHST bei MS-Patienten bei ein bis drei Prozent.«
Man müsse also Chancen und Risiken sorgfältig gegeneinander abwägen und stets individuell entscheiden, betont Nicolaus Kröger: »Nach den aktuell verfügbaren Daten profitieren von einer Stammzelltransplantation vor allem jüngere Patientinnen und Patienten oder solche, die noch nicht lange krank sind und deren Krankheit durch Schübe gekennzeichnet ist.« mo