Multiple Sklerose:»Plötzlich habe ich mich wiedererkannt«

Seit ihrer Jugend dachte Hannah Hübecker, sie sei einfach nur tollpatschig und würde deshalb öfter stolpern oder Sachen fallen lassen. Dass dahinter eine seltene Erkrankung stecken könnte, schwante ihr erst während ihres Medizinstudiums.

Die ersten Symptome meiner Krankheit hatte ich wahrscheinlich schon mit 13 oder 14«, sagt Hannah Hübecker. »Damals hat sich niemand wirklich dafür interessiert, dass ich manchmal unsicher gelaufen oder gefallen bin.« Es sei bei aktiven Kindern doch ganz normal, dass sie mal fallen oder ein Glas umwerfen, hätten wohl alle gedacht – und sie selbst auch.

»Mit zunehmendem Alter wurde es aber eher schlimmer als besser«, erzählt Hannah. »Mit 16 oder 17 war ich dann zusammen mit meinen Eltern das erste Mal bei einem Neurologen, um meinen motorischen Beschwerden auf den Grund zu gehen.« Aber weder dieser noch weitere Termine bei anderen Ärzten führten zu einem klaren Befund. »Niemand konnte mir wirklich helfen. Deshalb habe ich mich mehr oder weniger damit abgefunden, nicht mehr richtig laufen oder ein Glas Wasser halten zu können, ohne etwas zu verschütten«, berichtet die heute 23-Jährige.

Die Erlösung kam vor knapp zwei Jahren. Hannah, die inzwischen Medizin in Essen studiert, saß in einem Kurs zum Thema Ataxien. Dabei handelt es sich um seltene Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks, bei denen es aufgrund des gestörten Zusammenspiels verschiedener Muskelgruppen unter anderem zu fortschreitender Verschlechterung des Gleichgewichts, der Koordination und der Sprache kommen kann. »Es war wie eine Eingebung«, sagt Hannah heute. »Ich habe mich plötzlich komplett wiedererkannt. Sehr viele der geschilderten Symptome, vor allem der Friedreich-Ataxie, entsprachen genau meinen Beschwerden.«

Nach der Veranstaltung ging sie auf ihre Professorin zu und schilderte ihre Situation. Dagmar Timmann-Braun – sie ist Expertin für Ataxien an der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Essen – war sofort bereit, ihrer Studentin zu helfen. »Dann ging alles ganz schnell«, erzählt Hannah. »Nach verschiedenen Untersuchungen, vor allem aber anhand eines speziellen Gentests, erhielt ich schließlich eine Diagnose. Ich leide tatsächlich unter der Friedreich-Ataxie.« Endlich gab es eine Erklärung für ihren unsicheren Gang, das Zittern der Hände und das vor allem in Stresssituationen undeutliche Sprechen.

Optimale Betreuung

Ein weiterer Wendepunkt in Hannahs Leben war die Aufnahme in das Mitte 2023 gestartete Härtefallprogramm für die erste medikamentöse Behandlung der Friedreich-Ataxie. Ihre Professorin hatte ihr auch diesen Weg gebahnt. »Seitdem verschlimmern sich meine Symptome nicht mehr ganz so schnell wie in den letzten Jahren vor der Diagnose«, sagt Hannah. »Das liegt auch daran, dass ich jetzt von den auf Ataxien spezialisierten Ärzten und Therapeuten der Uniklinik Essen betreut werde.«

So geht Hannah unter anderem ein Mal pro Woche zur Physiotherapie, um ihren motorischen Einschränkungen entgegenzuwirken. »Die Schwierigkeiten beim Laufen sind mein Hauptproblem, längere Strecken schaffe ich inzwischen nur noch mit dem Rollator«, sagt sie. »Zum Glück habe ich aber weder Diabetes noch schwere Herzprobleme, unter der viele Betroffene mit Friedreich-Ataxie leiden.« Lediglich eine erhöhte Herzfrequenz und eine leichte Skoliose, eine Verkrümmung der Wirbelsäule, sind wahrscheinlich auf die Krankheit zurückzuführen.

Optimistisch nach vorn schauen

Wenn sie über ihre Zukunft spricht, bleibt Hannah vorsichtig. »Es gibt schwere Ataxie-Verläufe und kein Arzt kann mir sagen, wie die Krankheit sich bei mir entwickeln wird.« Es belaste sie, nicht verbindlich planen zu können. »Ich weiß ja nicht einmal, wie es mir in einem halben Jahr geht.«

Das habe sie auch ihrem Freund Stefan gesagt und ihn vor die Wahl gestellt, den Weg der Krankheit mit ihr zu gehen oder Abschied zu nehmen. »Er hat sich dafür entschieden, bei mir zu bleiben und mich zu unterstützen. Wir versuchen, im Hier und Jetzt zu leben und optimistisch nach vorn zu blicken.«

Das Gleiche gelte für ihre Familie und Freunde, sagt Hannah. Sie wisse, wie privilegiert sie sei, so viel Hilfe und Unterstützung zu bekommen und selbstständig leben und studieren zu können. »Vielen Betroffenen geht es viel schlechter – auch deshalb zögere ich, ihnen Ratschläge zu geben.« Dennoch möchte sie andere über die Friedreich-Ataxie aufklären und all diejenigen, die unter unerklärlichen motorischen Symptomen, Gleichgewichtsstörungen oder Sprach- und Schluckbeschwerden leiden, ermuntern, ein Zentrum für Muskelerkrankungen und Ataxien aufzusuchen. »Vielleicht hilft das dem einen oder anderen, schneller eine Diagnose zu erhalten, als es bei mir der Fall war.«

Und noch etwas ist Hannah wichtig: »Wenn man jemanden sieht, der unsicher läuft, sollte man lieber nett nachfragen, als ihm abschätzig zu begegnen. Viele Krankheiten sind nicht auf den ersten Blick ersichtlich – umso bedeutsamer ist es, dass wir offen und respektvoll miteinander umgehen.« ag