Multiple Sklerose:Das neue Ziel: Verbesserung statt nur Stabilität

Einige Medikamente gegen Multiple Sklerose (MS) wirken direkt im Zentralnervensystem (ZNS) und bekämpfen im Gehirn schwelende
Entzündungen. Im Gespräch mit NTC Impulse erläutert MS-Experte Professor Dr. Peter Rieckmann, Chefarzt an der Klinik für Neurologie im Innklinikum Altötting, welche Fortschritte diese Medikamente in der Behandlung der Krankheit bringen.

Herr Professor Rieckmann, die meisten MS-Therapien wirken über eine Beeinflussung des Immunsystems in Lymphknoten und Blut indirekt auf das Zentralnervensystem, sprich auf das Gehirn und das Rückenmark. Aber einige Medikamente entfalten ihre Wirkung direkt dort. Warum ist das so bedeutsam?

Bei der Multiplen Sklerose spielen die überschießenden Reaktionen des Immunsystems gegenüber körpereigenen Substanzen eine wichtige Rolle. Diese Substanzen sorgen für die normale Funktion des Zentralnervensystems. Bisherige MS-Medikamente greifen im Immunsystem an, im Blut und im Lymphsystem, sprich in der Peripherie des Körpers. Viele dieser Wirkstoffe sind große Moleküle und können deshalb die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Die Blut-Hirn-Schranke schützt das zentrale Nervensystem vor schädigenden Stoffen, sie hält aber auch viele der zur Therapie gedachten Substanzen mehr oder weniger außen vor.

Hauptziel der MS-Therapie war es doch immer, die entzündliche Aktivität zu verringern, also Schübe oder die in MRT-Aufnahmen sichtbaren neuen Läsionen im Gehirn zu reduzieren.

Richtig. Und dieses Zurückdrängen gelingt mit vielen Medikamenten, gerade der neueren Art, sehr gut. Schübe sind eigentlich kaum noch ein Problem. Dennoch haben viele Patientinnen und Patienten den Eindruck, dass es allmählich abwärts geht. Sie sind müde, ihr Gedächtnis und oft auch ihre Konzentration sind gestört oder es verschlechtern sich bestimmte motorische Fähigkeiten. Es hat sich gezeigt, dass bei MS noch mehr als gedacht im Gehirn passiert, unabhängig von diesen deutlich sichtbaren umschriebenen entzündlichen Veränderungen. Eine wichtige Rolle dabei spielen wahrscheinlich die im Gehirn ansässigen Immunzellen, Mikroglia genannt. Um diese Zellen zu erreichen, bedarf es kleinerer molekularer Wirkstoffe, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können.

Gibt es solche Wirkstoffe bereits?

Ja, einige sind bereits auf dem Markt, zum Beispiel Dimethylfumarat und Teriflunomid. Diese Substanzen lieferten uns erste Hinweise auf den neuen Wirkmechanismus. Zu Cladribin gibt es neu publizierte Daten, dass es nicht nur die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, sondern direkt auf dort ansässige Immunzellen wirkt. Weitere vielversprechende Substanzen werden gerade intensiv untersucht: die sogenannten Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren. Diese werden bereits bei anderen Erkrankungen eingesetzt und jetzt auf ihre Wirkung bei MS geprüft.

Sie haben gesagt, Schübe sind eigentlich kein Thema mehr. Was sollte ein Medikament in Bezug auf das Zentralnervensystem zudem erreichen?

Ziel ist, dass der Patient nicht nur stabil ist, sondern dass sein Zustand sich sogar verbessert. Durch die gezielte Blockade entzündlicher Prozesse im ZNS soll jegliche schubunabhängige Verschlechterung verhindert werden, gleichzeitig aber auch das Potenzial zur Verbesserung gefördert werden, etwa durch eine bessere Zellkommunikation – was wir als Neuroplastizität bezeichnen. In meiner Zeit als Arzt in der Rehabilitationsklinik habe ich gesehen: Patienten, die mit Präparaten behandelt werden, die eine bessere Gängigkeit ins Zentralnervensystem haben, zeigen ein größeres Potenzial zur Verbesserung und haben einen höheren Rehabilitationserfolg. Und das sind ganz neue Aussichten! Wir wollen also bei den MS-Patienten nicht mehr nur die Verschlechterung aufhalten − nein, jetzt ist die Möglichkeit zur Verbesserung gegeben.

Früher lag der Fokus der Therapie stark auf den motorischen Fähigkeiten. Jetzt, wo wir die Motorik relativ gut im Griff haben: Was sind Ihrer Ansicht nach die aktuellen Bedürfnisse von MS-Patienten in Bezug auf ihre Lebensqualität?

Die meisten MS-Patienten sind bei der Diagnose relativ jung, stehen also an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie viel unternehmen wollen, es im Beruf vorangehen soll und die Partnerschaft oder allgemein das soziale Umfeld eine wichtige Rolle spielen. Die Patienten wollen ihre geistige Fitness erhalten und ihre Ziele im Leben umsetzen. Inzwischen können wir ihnen sagen: Sie haben MS − und MS ist nach wie vor eine nicht heilbare Erkrankung. Aber sie haben auch einen Lebensplan. Leben sie diesen Plan so, als wenn sie keine MS hätten. Das ist ein großer Fortschritt im Vergleich zu früher. Unsere Aufgabe als Ärzte ist es, diese Perspektive zu schaffen und die Patienten zu unterstützen.

Wie können denn moderne Therapien die kognitiven Fähigkeiten des Patienten beeinflussen?

Heute gibt es einfache Tests, um die Verarbeitungsgeschwindigkeit und kognitiven Fähigkeiten zu messen. Wie Studien zeigen, verhindern bestimmte moderne Therapien nicht nur eine Verschlechterung der Kognition, sondern können diese sogar verbessern. Das ist besonders wichtig, weil schnelle Entscheidungen und die Fähigkeit, flexibel auf verschiedene Aufgaben zu reagieren, immer bedeutender werden. Eine wirksame Therapie, die direkt im Zentralnervensystem greift, kann also auch als eine Kognitionstherapie verstanden werden. Kognitive Verbesserungen sind mittlerweile ein neues und wichtiges Therapieziel. Bei der Fatigue, der krankhaften Erschöpfung, gibt es jedoch noch keine eindeutigen Erkenntnisse, ob sie sich durch diese Therapien
gezielt beeinflussen lässt.

Inwieweit beeinflussen die Erkenntnisse zu peripher wirkenden und zentral wirkenden Medikamenten, welche Therapie Sie bei einem MS-Patienten wählen?

Bei der hochaktiven MS haben Patienten nicht nur häufige Schübe, sondern auch kognitive Veränderungen. Diesen Krankheitsprozess gilt es frühzeitig zu stoppen − idealerweise bevor er sich im Zentralnervensystem weiter ausbreitet. Wenn bereits am Anfang viele Herde im Zentralnervensystem zu sehen sind, dann wollen wir mit Präparaten, die auch im Gehirn direkt wirken, den bereits eingetretenen Schaden möglichst reduzieren.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit MS-Patienten, bei denen sich die Erkrankung schleichend weiterentwickelt? Haben die verfügbaren MS-Medikamente das Potenzial, diesen Prozess zu beeinflussen?

Kleinmolekulare Substanzen können direkt im Gehirn entzündliche Prozesse hemmen. Sie wirken gezielt auf bestimmte Zellen, etwa B-Gedächtniszellen, die den Krankheitsprozess im Gehirn aktiv halten. Das ist besonders bei einer PIRA wichtig, einer schubunabhängigen Krankheitsprogression, bei der sich der Zustand der Betroffenen mit der Zeit verschlechtert, obwohl keine akuten Schübe oder sichtbare Entzündungsaktivität vorliegen. Grund kann eine Smoldering MS, sein, also eine schwelende MS mit unterschwelligen Entzündungsprozessen und strukturellen Veränderungen im Gehirn. Substanzen, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, bieten hier klare Vorteile. Sie beeinflussen gezielt die Mikroglia und vorhandene Entzündungsherde im Gehirn. Das kann dazu führen, dass Patienten eine anhaltende Verbesserung oder Stabilisierung erleben, sogar wenn die Therapie bereits beendet ist.

Eine Impulstherapie also?

Genau. Cladribin ist beispielsweise so ein Wirkstoff. Man nimmt es fünf Tage in einem Monat, nochmal fünf Tage im nächsten Monat und dann das ganze Jahr über nicht. Im zweiten Jahr nochmal das gleiche. Insgesamt kommen wir so auf zwanzig Therapietage in zwei Jahren. Nach dem, was wir aus der großen Zulassungsstudie wissen, können wir Wirkungen sogar noch im dritten und vierten Jahr erwarten – obwohl das Medikament nicht weiter eingenommen wurde.

Ärzte sprechen dabei von einer Immunrekonstitutionstherapie. Wie wirkt die?

Immunrekonstitutionstherapien bewirken eine gezielte Umstellung im Immunsystem. Es geht darum, die Zahl der aggressiven Zellen langfristig abzusenken, also der Zellen, die den Krankheitsprozess ins zentrale Nervensystem hineintragen und weiter befeuern. Dabei handelt es sich um eine spezielle Art der weißen Blutkörperchen, die sogenannten B-Gedächtniszellen. Kürzlich publizierte Daten zeigen zudem, dass diese Therapie auf die B-Gedächtniszellen auch direkt im ZNS wirkt. Andere Lymphozyten, die wir zum Beispiel für die Abwehr von Infekten oder von Tumorzellen benötigen, werden dabei kaum beeinflusst. Es ist wie in einem Orchester: Wenn einige Instrumente ein bisschen lauter spielen, müssen die anderen ein bisschen ruhiger sein.

Können Sie sich vorstellen, dass wir die MS irgendwann heilen können?

Das kann nur funktionieren, wenn wir beide Probleme bewältigen: die Fehlregulation des Immunsystems, wie sie sich im Lymphknoten und im Blut abspielt, und die schwelende Entzündungsaktivität jenseits der Blut-Hirn-Schranke im Zentralnervensystem. Wenn wir von Heilung sprechen, dann meinen wir damit, dass die Patienten nicht ständig ein Medikament nehmen, welches die Krankheitsaktivität unterdrückt. Heilung bedeutet, dass sie das Medikament für einen gewissen Zeitraum nehmen und sich das Immunsystem dann so umstellt, dass die Krankheit nicht mehr auftritt. Sprich: Wir machen eine Immunrekonstitution, und wenn die gelingt, ist die Krankheitsaktivität danach dauerhaft niedrig.

Welche langfristigen Effekte streben MS-Therapien heute an?

In den letzten Jahren war ich in der Rehabilitationsmedizin tätig. Dort haben wir die Patienten immer sehr stark gefordert, um zu sehen, was sie tun können. Und viele Patienten haben dann zurückgespielt: Mensch, ich wusste gar nicht, dass ich das noch kann. Oder: Jetzt fange ich neu an, das zu üben. Es geht also darum, durch Herunterregulation der Entzündung, peripher und zentral, das Potenzial der Neuroplastizität zu entfalten, um Dinge wieder neu erlernen und machen zu können.

Was sagen Sie MS-Patienten, die gerade die Diagnose bekommen haben und keine Idee haben, wie es weitergehen soll?

Natürlich ist die Diagnose zunächst ein Schock, aber auf der anderen Seite ist es auch ein Weckruf. Heutzutage ist es bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der Patienten so, dass wir die Erkrankung sehr gut kontrollieren und eine Stabilität erreichen können. Eine gesunde Lebensführung und Bewegung tragen dazu bei, das volle Potenzial der Therapie auszuschöpfen. Die Perspektive ist ein sehr aktives Leben – so, als hätte man gar keine MS.

Herr Professor Rieckmann, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führte der Neurologe Dr. Thomas Knoll, Inhaber einer MS-Schwerpunktpraxis in München (www.neuromuenchen.de).

Glossar

Mikroglia sind Immunzellen im zentralen Nervensystem. Sie beseitigen Abfallstoffe und Zellreste und tragen durch Abbau oder Stärkung von Synapsen zur Neuroplastizität bei. Im kranken Gehirn bekämpfen sie Erreger und locken weitere Immunzellen an.

Neuroplastizität bezeichnet die Eigenschaft von Nervenzellen, sich in ihrer Funktion zu verändern und an Erfordernisse anzupassen. Dieser Vorgang ist essenziell für das Lernen.

Weiße Blutkörperchen (Leukozyten) sind Teil des Immunsystems. Zu den weißen Blutkörperchen gehören die Lymphozyten, unterteilt in B-Lymphozyten, T-Lymphozyten und natürliche Killerzellen. B-Lymphozyten sorgen für das Ausschütten von Antikörpern und können sich zu B-Gedächtniszellen umwandeln, die bei erneutem Kontakt mit demselben Erreger oder derselben Substanz sofort aktiviert werden.

PIRA (Progression der Behinderung ohne Krankheitsaktivität, auf Englisch Progression Independent of Relapse Activity) bezeichnet einen MS-Krankheitsfortschritt unabhängig von Schüben. PIRA-Symptome bilden sich nicht zurück, im Unterschied zu vielen anderen Symptomen im Zuge eines Schubes.

Smoldering MS (schwelende MS) fasst chronische Entzündungsprozesse im Gehirn zusammen, die neben den akuten Entzündungen ablaufen. Dies kann letztendlich zu einer PIRA führen.