Schmerz:Kirmes im Kopf

Gedanken und Gefühle fahren Karussell, weil Hunderte von Reizen mit aller Macht ins Hirn dringen. Zwei bis drei Millionen erwachsene Menschen hierzulande erleben die Situation Tag für Tag. Sie haben ADHS, eine genetisch bedingte Störung der Kommunikation zwischen den Nervenzellen. So anstrengend das sein mag: Es gibt viele gute Wege, um mit der neurologischen Besonderheit zu leben und sie sogar für sich zu nutzen.

Der Fehler, wenn man ihn überhaupt so nennen will, liegt im Gehirn. Dort stehen Milliarden von Nervenzellen im permanenten Austausch. Sie kommunizieren mithilfe von Botenstoffen, auch Neurotransmitter genannt. Einer von ihnen ist die Substanz Dopamin. »Bei Menschen mit ADHS gibt es im Gehirn an manchen Stellen zu wenig davon«, erklärt Dr. Swantje Matthies, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Wahrscheinlich seien aber auch noch andere Neurotransmitter an der Entstehung von ADHS beteiligt, ergänzt die Medizinerin, die sich auf die Diagnostik und Therapie von ADHS bei Erwachsenen spezialisiert hat.

ADHS ist die Abkürzung für den komplizierten Namen der Besonderheit im Gehirn, die zwei entscheidende Symptome beschreibt: Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung. Menschen mit ADHS fällt es oft schwer, sich zu konzentrieren und aufmerksam bei einer Sache zu bleiben. Sie haben vielfach ein gesteigertes Bedürfnis, sich zu bewegen, sind also hyperaktiv. Hinzu kommt, dass sie häufig sehr impulsiv sind, ihre Gefühle nur schwer unter Kontrolle bekommen und zuweilen recht unüberlegt handeln.

Der Mangel an Botenstoffen ist angeboren. Er wird durch eine Vielzahl genetischer Varianten hervorgerufen, die in ihrer Komplexität noch nicht vollständig verstanden sind. Da die Abweichungen in den Genen vererbt werden, kommt ADHS in Familien meist gehäuft vor. Selten ist die Besonderheit nicht. »Etwa vier bis acht Prozent der Kinder hierzulande haben ADHS«, sagt Matthies. Bei etwa der Hälfte von ihnen lassen die Symptome nach, wenn sie erwachsen werden. Das hat zur Folge, dass zwei bis vier Prozent aller Erwachsenen in Deutschland mit der Störung leben. »Jeder von uns kennt vermutlich einen Menschen mit ADHS«, sagt Matthies. Psychische Belastungen können die Symptome zwar verstärken, aber nicht auslösen.

In Bestform, wenn es brenzlig wird

Von einer Krankheit will Matthies bei ADHS nicht immer sprechen, manchmal eher von einer Normvariante. »Die Gehirne von uns Menschen funktionieren nun mal nicht alle gleich«, sagt sie. »ADHS ist, ähnlich wie beispielsweise Autismus oder Legasthenie, ein Ausdruck unserer Neurodiversität.« Hervorheben möchte die Medizinerin die Stärken, die Menschen mit ADHS oft haben: »In schwierigen Situationen laufen sie meist zu Höchstform auf.« Denn wenn es brenzlig wird, scheint ihr Gehirn besonders gut zu funktionieren. Meist arbeitet es dann schneller und präziser als das von neurotypischen Personen. »Menschen mit ADHS sind daher oft ideale Notärzte, Rettungssanitäter oder Einsatzkräfte der Feuerwehr«, sagt Matthies. Auch die Impulsivität könne häufig von Vorteil sein: »Wer ADHS hat, ist meist kreativer, begeisterungsfähiger, entscheidungsfreudiger und handelt entschlossener und mit mehr Mut zum Risiko als andere Personen«, erläutert Matthies. Menschen ohne ADHS könnten von diesen Eigenschaften oft profitieren.

Begleiterkrankungen sind häufig

Doch natürlich kann ein Leben mit ADHS Nachteile und auch schwere Beeinträchtigungen mit sich bringen. Unter anderem fällt es den Betroffenen meist schwer, zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu unterscheiden. Viele von ihnen nehmen sämtliche Reize, die von außen auf sie eindringen, weitgehend ungefiltert wahr, sei es das Vogelgezwitscher draußen, die leise Musik, die im Hintergrund spielt, oder der womöglich entscheidende Satz, den ein anderer Mensch gerade zu ihnen gesagt hat. Das macht viele Situationen, vor allem im Berufs- und Familienleben, sehr schwer – etwa so, als müsse man mitten auf einem lauten, grellbunten Jahrmarkt ein wichtiges Gespräch führen.

Weil ein solcher Zustand sehr belastend sein kann, kommt es gerade im Erwachsenenalter leicht zu Begleitkrankheiten wie Depressionen oder Angststörungen. Auch Suchterkrankungen sind bei Menschen mit ADHS vergleichsweise häufig. »Nahezu alle Substanzen, die suchterzeugend sind, fördern im Gehirn die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin«, erklärt Matthies. Dies sei ein Vorgang, der von Menschen mit ADHS angestrebt werde. »Zigaretten, Alkohol und viele andere Drogen machen die Betroffenen daher besonders leicht abhängig und schaden ihnen dann natürlich auch.«

Wer als Erwachsener ADHS bei sich vermutet und sich von ihr in seinem Leben beeinträchtigt fühlt, sollte sich daher nicht scheuen, Hilfe in Anspruch zu nehmen – auch wenn die Wartezeit auf einen Termin bei einer geeigneten Anlaufstelle mitunter sehr lang sein kann. »Wer länger auf einen Termin in einer psychiatrischen Praxis oder Klinik, die auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert ist, warten muss, kann sich zum Beispiel zunächst an Selbsthilfegruppen wenden oder sich auf deren Internetseiten über mögliche Strategien informieren, um mit der Besonderheit besser zu leben«, empfiehlt Matthies.

Um ADHS zu diagnostizieren, erfolgt in der Regel als Erstes ein ausführliches Gespräch, in dem die Lebens- und Krankengeschichte erhoben wird, oft auch mithilfe spezieller Fragebögen. »Es muss zum Beispiel sichergestellt sein, dass die Probleme bereits in der Kindheit vorhanden waren«, sagt Matthies. »Denn dass ADHS sich erst im Erwachsenenalter bemerkbar macht, gilt als ausgeschlossen.« Allerdings verändern sich die Symptome oft im Laufe des Lebens. »Die Impulsivität lässt meist etwas nach, ebenso die Hyperaktivität, oft empfinden die Betroffenen dann eher eine permanente innere Unruhe«, erläutert die Medizinerin. Was fast immer bleibt, ist das Aufmerksamkeitsdefizit. Um dieses zu erkennen, stehen den Ärzten verschiedene neuropsychologische Tests zur Verfügung. Mit bildgebenden Verfahren oder anhand von Laborwerten lässt sich ADHS hingegen nicht erkennen. Das macht die Diagnose mitunter nicht ganz leicht.

Wenn diese klar ist, kann eine Therapie beginnen. »Anders als Kindern stehen Erwachsenen von Anfang an alle Behandlungsoptionen grundsätzlich offen«, sagt Matthies. Dazu gehören beispielsweise Achtsamkeitsübungen, verschiedene Formen der Psychotherapie und Medikamente. »Bei vielen Betroffenen führt jedoch allein die Diagnose schon zu einer ungeheuren Erleichterung«, weiß Matthies. »Mitunter benötigen sie dann gar keine Behandlung mehr.« Andere profitieren womöglich von einer Verhaltenstherapie, in der sie zum Beispiel lernen, ihren Alltag besser zu planen und zu strukturieren und negative Überzeugungen von sich selbst zu korrigieren.

In schwereren Fällen können auch Medikamente sinnvoll sein, zuweilen wird sogar erst mit ihrer Hilfe ein anderer Behandlungsansatz möglich. Als einer der wichtigsten Wirkstoffe gilt die Substanz Methylphenidat, die zu den Psychostimulanzien gehört. Im Gehirn bewirkt sie, dass zwischen zwei Nervenzellen, im sogenannten synaptischen Spalt, mehr Dopamin zur Verfügung steht. »Für Erwachsene eignen sich vor allem langwirksame Präparate, bei denen der Wirkstoff verzögert freigesetzt wird«, erklärt Matthies. Oft reichen dann ein oder zwei Tabletten, die bereits 30 bis 45 Minuten nach der Einnahme zu wirken beginnen, am Tag aus. Amphetamine, die bei ADHS ebenfalls zum Einsatz kommen können, haben ähnliche Effekte.

Mittel gegen Angst und Depression

Ein weiteres wichtiges Medikament ist die Substanz Atomoxetin. Sie erhöht die Menge des Botenstoffs Noradrenalin im synaptischen Spalt und kann auch Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angstzustände lindern. Ihre Wirkung setzt allerdings erst ein paar Wochen nach Therapiebeginn ein. Anders als Methylphenidat und Amphetamine fällt Atomoxetin nicht unter das Betäubungsmittelgesetz und lässt sich daher auf einem ganz normalen Rezept verordnen.

»Alle medikamentösen Therapien sollten ärztlich immer gut begleitet werden«, sagt Matthies. Ob Tabletten zumindest für einen begrenzten Zeitraum nötig sind, darf jeder Mensch für sich entscheiden. Eines ist Matthies bei dieser Frage ganz wichtig: »Wer die Vorteile der ADHS erkennt und gut für sich zu nutzen weiß, möchte sie irgendwann vielleicht gar nicht mehr missen.«