Schmerz»ADHS ist meine Superkraft«
Die 30-jährige Doreen Aldugan ist berufstätig, vierfache Mutter – und hat ADHS. Ihr Ziel ist es, anderen Betroffenen zu helfen, trotz der Besonderheit im Gehirn ein richtig gutes Leben zu führen.
Wann hast du zum ersten Mal bemerkt, dass du irgendwie anders bist als andere Menschen?
Eigentlich seit ich denken kann. Richtig bewusst wurde es mir in der Schule, zum Beispiel im Matheunterricht. Für mich ergab es nie einen Sinn, wie die anderen Kinder ihre Aufgaben lösten. Ich hatte stets meine ganz eigenen Ansätze. Die ersten echten Probleme traten aber erst später auf. Als Jugendliche musste ich in jedem Gespräch feststellen, dass ich offenbar völlig anders denke und handele als andere.
Wie hat das damals deinen Alltag beeinflusst?
Viele Menschen nahmen mich als streitlustig wahr, weil ich alles hinterfragt habe. Dabei wollte ich immer nur verstehen, warum die anderen so anders dachten als ich. Gleichzeitig litt ich an ständigen Selbstzweifeln. Mir wurde oft gesagt, ich sei zu laut oder würde mich zum Beispiel übertrieben freuen. Und es fiel mir tatsächlich sehr schwer, still zu sitzen.
Da das Gehirn bei ADHS langsamer reift, hatte ich Probleme, vorausschauend zu handeln oder Gefahren zu erkennen. Dennoch verbrachte ich meine Freizeit meist mit älteren Jugendlichen, was eine unheilvolle Kombination war. Ich habe jeden Blödsinn mitgemacht, mich oft verletzt, schon mit zwölf Jahren geraucht, Alkohol getrunken – und meiner Mutter, die alleinerziehend war, viele schlaflose Nächte bereitet.
Wie lange hat es gedauert, bis du die Diagnose ADHS erhalten hast?
Ich war damals 14. Meine Mutter war mit mir zu einer Ärztin gegangen, nachdem bei einem Kind ihres Kollegen ADHS festgestellt worden war. Ich kann mich aber eigentlich nur noch daran erinnern, dass ich auf all das überhaupt keinen Bock hatte.
Hat sich dein Leben daraufhin verändert?
Weder meine Mutter noch ich konnten mit der Diagnose viel anfangen. Mir wurde zwar direkt Amphetaminsulfat verschrieben, aber ich setzte das Medikament nach kurzer Zeit selbstständig wieder ab, weil ich schlapp wurde, nicht mehr schlafen konnte und mich gar nicht mehr wie ich selbst fühlte.
Was mein Leben veränderte, war nicht die Diagnose, sondern dass ich im gleichen Jahr in eine betreute Wohngruppe zog. Dort merkte ich, wie klein meine eigenen Probleme im Vergleich zu denen der anderen Jugendlichen waren – und wie gut ich es zu Hause hatte. Nach rund einem Jahr bin ich zurück zu meiner Mutter gezogen und mein Leben geriet in etwas ruhigere Bahnen. Ich konnte an einem Gymnasium mein Abitur machen und war dort sogar Klassensprecherin.
In den Sinn kam mir die ADHS erst wieder, als ich 22 war. Meine damals beste Freundin warf mir in einem Streit vor, dass ich zu sprunghaft und nicht kritikfähig sei. Das warf mich massiv in meine Selbstzweifel zurück. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum ich so bin, wie ich bin, erinnerte ich mich an meine Diagnose. Seither sauge ich alles zu dem Thema auf, bilde mich fort und weiß inzwischen wirklich viel darüber.
Inwieweit haben sich die Symptome der ADHS mit zunehmendem Alter verändert? Welche Schwierigkeiten gilt es jetzt, da du erwachsen bist, zu bewältigen?
Vor allem die Hyperaktivität ließ etwas nach. Heute kann ich still sitzen, auch wenn ich dann zumindest meinen Händen etwas zu tun geben muss. Es fällt mir aber immer noch sehr schwer, mich auf eine Sache zu fokussieren, weil alle Reize von außen ständig ungefiltert auf mich hereinprasseln. Gerade höre ich zum Beispiel permanent, wie meine Kinder nebenan mit Lego spielen.
Wie gelingt es dir trotzdem, dich zu konzentrieren? Und wie meisterst du generell deinen turbulenten Alltag?
Nur durch jahrelanges Training. Meine Hauptstrategie besteht darin, dass ich mir alles aufschreibe. Ich notiere meine Gedanken meist sofort auf
Listen und trage alle Termine in den Kalender meines Handys ein. In den schaue ich am Tag bestimmt hundert Mal. Trotzdem vergesse ich oft auch wichtige Dinge.
Mittlerweile merke ich zudem viel schneller als früher, wenn mir etwas zu viel wird. Ich kommuniziere das dann und ziehe mich zur Not kurz zurück. Zwar verhindert das nicht, dass ich auch mal laut werde. Wenn ich aber zum Beispiel eines meiner Kinder angeschrien habe, nur weil mir selbst alles zu viel wurde, entschuldige ich mich danach.
Welche Therapien haben dich auf deinem bisherigen Weg begleitet?
Bis auf die kurze medikamentöse Behandlung mit 14 habe ich keine Therapien erhalten. Aber ich habe mir vieles angelesen, sinnvolle Strategien erlernt und mich dadurch quasi selbst therapiert. Momentan ist mein Leidensdruck nicht so groß, dass ich eine Therapie bräuchte.
Gibt es auch Stärken, die du aufgrund deiner ADHS vielleicht hast?
Ich bin auf jeden Fall sehr empathisch, hilfsbereit und will immer, dass es den Menschen um mich herum gut geht. Zudem bin ich kreativ und kann mich für fast alles begeistern. Wenn mich eine Sache so richtig packt, bleibe ich auch bis zum Ende bei der Stange. Zum Beispiel habe ich neulich einer Freundin ein Brautkleid genäht. Bis dahin konnte ich kaum nähen.
Streng genommen haben wir Menschen mit ADHS kein Aufmerksamkeitsdefizit, sondern nur Schwierigkeiten, uns zu fokussieren. Wenn wir aber auf eine Sache richtig Lust haben, können wir uns konzentrieren. Ich war beispielsweise immer eine Niete in Mathe. Nur Vektorgeometrie fand ich spannend. In dieser Klausur habe ich 15 Punkte geschrieben. Für mich ist ADHS eine Superkraft und richtig eingesetzt kann sie ein echtes Geschenk sein. Auch deshalb möchte ich über unsere Besonderheit aufklären und andere Betroffene unterstützen.
Was würdest du Menschen raten, die ADHS bei sich vermuten?
Das hängt davon ab, ob ein Leidensdruck besteht oder nicht. Termine, um ADHS zu diagnostizieren, und Therapieplätze sind schwer zu bekommen und sollten denen vorbehalten bleiben, die sie wirklich benötigen. Für diese Menschen wäre der erste Schritt, zum Hausarzt zu gehen und um eine Überweisung zu bitten. Privatversicherte können sich direkt an eine psychologische oder psychiatrische Praxis wenden, die auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert ist.
Während der Wartezeit auf den Termin kann man sich im Internet informieren und Strategien erlernen, die bei ADHS hilfreich sind. Eines sollte man dabei immer beachten: Wundermittel gibt es keine. Die brauchen wir aber auch nicht.