SCHMERZ: Weg frei Richtung Muskeln

Bei einer Spinalen Muskelatrophie gehen die Verbindungsstraßen zwischen dem Gehirn und den Muskeln, die Motoneurone, nach und nach zugrunde. Neue Therapien setzen diesem Sterben ein Ende. Je früher sie verabreicht werden, desto stärker können die Patienten profitieren.

Es ist nur ein einziges Gen, das defekt ist. Die Folgen der Mutation aber sind schwerwiegend. Denn das Protein, das aus dem Gen hervorgeht, ist für das Überleben der Motoneurone erforderlich – jener Nervenzellen, die Signale aus dem Gehirn an die Muskelzellen weiterleiten und so die Muskelbewegungen steuern. SMN heißt das Protein, der Name ist die Abkürzung für die englische Bezeichnung Survival of Motor Neuron und Survival bedeutet auf Deutsch Überleben.

Echte Meilensteine

Eine reelle Chance, den zweiten oder gar dritten Geburtstag zu er- und überleben, hatten Kinder, die mit einer schweren Form der Erbkrankheit zur Welt gekommen waren, bis vor wenigen Jahren nicht. Denn Muskeln, die keine Signale erhalten, verkümmern nach und nach. Das gilt auch für die Muskeln, die zum Atmen und damit zum Leben erforderlich sind. Die Diagnose Spinale Muskelatrophie, kurz SMA, vom Typ 1, bei der der Körper so gut wie gar kein SMN-Protein bilden kann, kam damit lange Zeit einem sicheren und frühen Todesurteil gleich.

Doch das hat sich geändert. Inzwischen gibt es drei Therapien, die das Leben von Menschen mit SMA verlängern und erleichtern. »Ihre Zulassungen waren echte Meilensteine und gaben uns Ärzten erstmals Werkzeuge in die Hand, mit denen wir SMA-Patienten und ihren Angehörigen mittlerweile Hoffnungen machen können, die früher undenkbar gewesen wären«, sagt Professorin Maggie Walter vom Friedrich-Baur-Institut an der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, die sich auf die Behandlung von Erwachsenen mit SMA spezialisiert hat.

Mehrere Varianten

Schon immer wurden auch Kinder mit einem defekten SMN1-Gen geboren, bei denen die Krankheit erst später im Leben ausbrach und deren Muskelschwäche zudem weniger stark ausgeprägt war als bei der besonders schweren SMA vom Typ 1. Das liegt daran, dass sich im Erbgut neben dem wichtigen SMN1-Gen eine weitere Erbanlage namens SMN2 befindet. Aus ihr geht ebenfalls SMN-Protein hervor, allerdings in deutlich geringeren Mengen. Während manche Menschen nur zwei Kopien des SMN2-Gens haben, verfügen andere über bis zu acht. »Die Anzahl der SMN2-Genkopien bestimmt den Schweregrad der SMA«, erläutert Walter. »Je mehr von ihnen ein Mensch mit einem defekten SMN2-Gen besitzt, desto milder verläuft die Erkrankung.«

Mediziner unterschieden bisher meist zwischen einer SMA vom Typ 1, 2 oder 3. Typ 1 ist die schwerste und mit einem Anteil von fast 60 Prozent zugleich häufigste Form, die bei bis zu zehn von 100.000 Neugeborenen zu finden ist. Typ 3 ist eine mildere Variante, bei der im natürlichen Verlauf der Erkrankung die Gehfähigkeit verloren geht, die Atemmuskulatur hingegen nicht betroffen ist – weshalb Patienten mit einer Typ-3-SMA zwar oft auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ansonsten aber eine ganz normale Lebenserwartung haben. »Im Zeitalter der neuen Therapien werden die Patienten allerdings mehr und mehr ihren motorischen Funktionen entsprechend in Non-Sitter, Sitter und Walker unterteilt – je nachdem, ob sie eigenständig sitzen und gehen können oder nicht«, erläutert Walter.

Für alle Formen der SMA

Das erste SMA-Medikament, das 2017 in Deutschland zugelassen wurde, war der Wirkstoff Nusinersen. Er zählt zu den Antisense-Oligonukleotiden, kurz ASO, die die Aktivität von Genen beeinflussen können. Nusinersen wird zunächst im Abstand von wenigen Wochen, später alle vier Monate in den Wirbelkanal injiziert und bewirkt, dass das SMN2-Gen vermehrt abgelesen und so in SMN-Protein umgewandelt wird. Ein zweitägiger Krankenhausaufenthalt ist für die Gabe jeweils erforderlich.

»Der Wirkstoff ist in jedem Lebensalter und für alle Formen der SMA geeignet«, sagt Walter. »Mit ihm können wir den Krankheitsverlauf zumindest anhalten und oft kommen auch die Muskelfunktionen zurück, die in den letzten beiden Jahren vor Behandlungsbeginn verlorengegangen sind.« Mitunter bedeutet das zwar vielleicht nur, dass die Kraft in einem Finger zurückkehrt. »Für manche meiner Patienten ist das trotzdem ein großer Fortschritt, weil sie nun zum Beispiel wieder in der Lage sind, sich in einem elektrischen Rollstuhl selbstständig fortzubewegen«, berichtet Walter.

Einmalige Infusion

Das zweite Präparat, das hierzulande seit 2020 erhältlich ist, trägt den komplizierten Namen Onasemnogen-Abeparvovec und muss nur ein einziges Mal in die Blutbahn injiziert werden. Die Behandlung, bei der ein modifiziertes Virus intakte Versionen des SMN1-Gens in die Zellkerne einschleust, zählt zu den Genersatztherapien. Die Infusion gilt mit ihrem Preis von mehr als zwei Millionen Euro als das vermutlich teuerste Medikament der Welt und ist insbesondere für die Behandlung der Typ-1-SMA und einer Typ-2-SMA mit höchstens drei Kopien des SMN2-Gens gedacht.

»In Deutschland herrscht zudem Konsens darüber, dass die Behandlung Kindern unter zwei Jahren und mit einem Gewicht von höchstens 21 Kilogramm vorbehalten sein sollte – auch weil mit zunehmendem Gewicht und der dadurch nötigen höheren Dosis das Risiko schwerer Nebenwirkungen steigt«, sagt Walter. »Kommt die Genersatztherapie hingegen sehr früh zum Einsatz, bevor erste Symptome der SMA überhaupt zu beobachten sind, besteht eine reelle Chance, dass sich die Kinder ganz normal entwickeln.« Dies gelte jedoch im gleichen Maße für die anderen beiden aktuell zur Verfügung stehenden SMN-spezifischen Therapien: »Time is motor neuron.« Möglich geworden sind solch frühzeitige Interventionen, da ein Test auf SMA seit Herbst 2021 zum Neugeborenen-Screening gehört.

Eigene Kinder sind möglich

Im gleichen Jahr wurde der dritte Wirkstoff gegen die Krankheit zugelassen. Er heißt Risdiplam, ist ein sogenanntes Small Molecule, auf Deutsch kleines Molekül, und erhöht ganz ähnlich wie Nusinersen die Aktivität des SMN2-Gens. Risdiplam kann ebenfalls in jedem Alter und bei allen Formen der SMA zum Einsatz kommen. Anders als Nusinersen wird es oral und zu Hause, stets zur etwa gleichen Uhrzeit, mithilfe einer Dosierungsspritze eingenommen. Die Lösung, die in der Apotheke angemischt wird, muss durchgehend gekühlt werden.

»Unseren Erfahrungen nach wirken Nusinersen und Risdiplam, deren Gabe jeweils pro Jahr rund 250.000 Euro kostet, in etwa gleich gut«, sagt Walter. »Allerdings unterscheiden sich die beiden Substanzen in ihren Nebenwirkungen.« Nusinersen gelte als sehr gut verträglich, die meisten unerwünschten Effekte, etwa vorübergehende Kopf- und Rückenschmerzen, seien vor allem eine Folge der Verabreichungsmethode. Risdiplam, das aufgrund der oralen Einnahme im ganzen Körper wirkt, könne unter anderem zu Fieber, Durchfall sowie zu Reaktionen der Haut und der Schleimhäute führen. Patienten, deren Wirbelsäule aufgrund der SMA stark verkrümmt ist, rät Walter dennoch eher zu einer Therapie mit Risdiplam, weil bei ihnen die Gabe von Nusinersen rein technisch erschwert ist.

»Zu beachten ist zudem, dass eine Frau während einer Therapie mit Risdiplam sicher verhüten sollte, weil der Wirkstoff bei Ungeborenen Fehlbildungen hervorrufen kann«, gibt Walter zu bedenken. Patientinnen mit einem Kinderwunsch sollten daher Nusinersen den Vorzug geben, das erst bei einer bereits bestehenden Schwangerschaft vorübergehend abgesetzt wird. »Dass Frauen mit SMA aber überhaupt darüber nachdenken können, ob sie ein Kind bekommen möchten oder nicht, ist auch schon ein großer Fortschritt, der nur den neuen Therapien zu verdanken ist«, sagt Walter. Bei Männern komme es während einer Risdiplam-Einnahme zu Unfruchtbarkeit, die nach Absetzen des Medikaments jedoch reversibel sei, ergänzt die Neurologin.

Signal zum Wachsen

Auch die Genersatztherapie ist natürlich nicht frei von möglichen Nebenwirkungen. Unter anderem erhöht sie das Risiko für schwere Leberschäden und Blutgerinnungsstörungen. »Aktuell wird eine zusätzliche Variante, bei der die Viren mit den funktionstüchtigen SMN1-Genen nicht in die Blutbahn, sondern wie bei Nusinersen direkt in den Wirbelkanal injiziert werden, in klinischen Studien erprobt«, berichtet Walter. »Das neue Verfahren hätte den Vorteil, dass die erforderliche Dosis nicht gewichtsabhängig wäre und die Genersatztherapie somit auch erwachsenen SMA-Patienten zugutekommen könnte.«

Auch Kombinationsbehandlungen, bei denen im Anschluss an die Genersatztherapie zusätzlich eine regelmäßige Gabe von Nusinersen oder Risdiplam erfolgt, werden derzeit in Studien untersucht. »Bei den meisten Patienten dürfte eine solche Kombination aber gar nicht erforderlich sein«, sagt Walter. »Und da ihr Nutzen bislang nicht belegt ist, zahlen die Krankenkassen die Kombinationstherapie derzeit nur in Ausnahmefällen.«

Als effektiver schätzt die Neurologin ohnehin eine zusätzliche Behandlung mit Substanzen ein, die direkt im Muskel wirken und dort deren Wachstum fördern. Die Effekte solcher Wirkstoffe auf die Symptome der SMA werden momentan ebenfalls in Patientenstudien erforscht. »In unserem Körper gibt es ein Protein namens Myostatin, das das Wachstum unserer Muskeln begrenzt«, erläutert Walter. »Neue Medikamente, sogenannte Myostatin-Inhibitoren, hemmen dieses Protein und sollen so Muskeln, die bereits verkümmert sind, wieder zum Wachsen anregen.« Erste Ergebnisse von Studien, bei denen die Wirkstoffe zusätzlich zu Nusinersen oder Risdiplam oder im Anschluss an die Genersatztherapie verabreicht werden, seien sehr ermutigend.

Bewegung bleibt wichtig

Wichtig bleibe trotz aller medizinischen Fortschritte eines, betont Walter: »Man kann, egal mit welchem Wirkstoff, nicht nur herumsitzen und darauf warten, dass sich die Situation nun von allein verbessert.« Vielmehr müsse man so gut es geht in Bewegung bleiben und zudem die angebotene Physio-, Ergo und womöglich auch Logotherapie regelmäßig absolvieren. Auch eine gesunde, proteinreiche Ernährung helfe, die Muskeln optimal zu versorgen und ihre Kraft noch lange zu erhalten.